Kapitel 23

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Seit jenem Augenblick hat sich die Beziehung zwischen Santiago und mir vollkommen verändert. Bereits nach seinem Unfall hat Santiago sich so sehr gewandelt, dass ich ihn kaum wiedererkennen konnte, doch niemals hätte ich gedacht, dass unser Zusammenleben von noch mehr Veränderungen geprägt werden könnte.
Er erscheint jeden Tag im Speisesaal, um mit mir zu essen und sobald sich unsere Blicke im Palast begegnen, durchströmt eine plötzliche Hitze meinen Körper, als würde Feuer durch meine Adern fließen. Immer häufiger berührt er mich flüchtig an der Wange oder an der Hand und lässt es dabei vor allen anderen so aussehen, als wäre es völlig unabsichtlich geschehen. Doch sein intensiver Blick, den er mir in jedem dieser Augenblicke schenkt, beweist mir, dass er mit purer Absicht meine Nähe sucht.
Doch so gerne ich auch seine Hand in meiner spüre, so nah wie in jener Nacht sind wir uns kein weiteres Mal gekommen.
„Du bist meine Frau. Und nur du allein bestimmst, wie weit wir jemals gehen werden.“
Seine Worte begleiten mich jedes Mal, sobald er seine Hand von meiner löst. Er hat sein Versprechen gehalten. Doch wieso versetzt es mir jedes Mal einen solchen Schmerz, wenn er sich von mir entfernt? Wieso habe ich das Gefühl, als würde er mich ablehnen und mich damit verletzen?
Ich seufze leise und versuche mich auf meinen bevorstehenden Besuch bei den Kindern vorzubereiten.
Die Schule ist nach nur wenigen Wochen fertiggestellt, sodass bereits heute die ersten Kinder ihren Klassen zugewiesen werden können.
Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich an all die glücklichen und aufgeregten Kinder denke, die mit ihren neuen Schuluniformen und den Schultaschen in den Klassenzimmern sitzen werden und Lesen, Schreiben und Rechnen lernen werden.
„Lucía? Lucía, hast du mich nicht gehört?“
Eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und als ich abrupt den Kopf hebe werde ich von einem Paar meerblauer Augen aufgefangen.
„Was?“, stammle ich. „Nein, anscheinend nicht… Tut mir leid, was hattest du nochmal gesagt?“
Ein Lächeln erscheint auf Santiagos Gesicht. Ich muss ein Lachen unterdrücken, als ich daran denke, wie mir dieses Lachen anfangs so fremd vorgekommen ist. Mit der Zeit ist es für mich selbstverständlich geworden, den Kopf zu ihm zu drehen und sehen zu können, wie glücklich er ist.
„Was ist los?“, will ich wissen, als er immer noch nichts sagt, sondern mich lediglich ansieht.
Er schüttelt den Kopf und wendet den Blick von mir ab. „Die Kinder werden sich freuen, dich zu sehen“, sagt er stattdessen und blickt aus dem Fenster des Wagens.
Und wie sie sich freuen.
In dem Moment, in dem der Wagen vor das Tor der neuen Schule zum Halten kommt, ertönen bereits die freudigen Rufe der Kinder und einer nach dem anderen stürmt auf den Wagen zu.
Francisco öffnet uns die Wagentür und Santiago hilft mir aus dem Wagen.
La reina!“, höre ich die Kinder rufen und keinen Augenblick später werde ich von ihnen empfangen.
Ich umarme jeden einzelnen von ihnen und betrachte ihre ordentlich aussehenden Schuluniformen. Während die Mädchen dunkelblaue Röcke und weiße Blusen tragen, sind die Jungen in dunkelblauen Hosen und weißen Hemden bekleidet.
Reina!“
Augenblicklich pocht mein Herz schneller. Ich würde diese kleine Stimme aus Tausenden erkennen… Sofort drehe ich mich um und blicke León an, der mit strahlenden Augen zu mir hinaufsieht. In einer Hand trägt er seine Schultasche, die fast genauso groß ist, wie er selbst und die saubere Kleidung, die er nun trägt ist nicht vergleichbar mit den Lumpen, die er bisher immer getragen hat.
„Hallo, León“, begrüße ich ihn und bücke mich zu ihm hinunter, sodass ich mit ihm auf Augenhöhe bin. „Wie geht es dir?“
„Gut!“, sagt er vergnügt und zeigt auf die Schule, die sich hinter dem Schultor befindet. „Wann werde ich lesen und schreiben?“
Lachend tritt Santiago neben mich und beugt sich zu dem kleinen Jungen hinunter. „Da ist wohl jemand ganz besonders motiviert?“ Er streicht León über seinen dunklen Schopf und wendet sich wieder mir zu. „Lass uns hinein gehen“, sagt er und ganz automatisch finden sich unsere Finger und verschränken sich miteinander.
Die Schule ist das Schönste, was ich seit langem in Carazita zu Gesicht bekommen habe. Ein weißes Gebäude mit einem grünbepflanzten Hof davor, durch den wir gehen, ehe wir die Eingangstüren der Schule öffnen und mir der Atem vor Staunen stockt.
Ein langer, hellgestrichener Flur liegt vor uns, links und rechts mit bunten Schulspinden gesäumt, die sich mit Türen aus hellem Holz abwechseln, die zu den Klassenzimmern führen.
Wir werden in eines der Klassenzimmer geführt, in dem die Kinder an kleinen Tischen Platz nehmen und wie gebannt an die Tafel blicken, an der eine junge Lehrerin, die sich uns mit dem Namen Señorita Marquez vorstellt hat, den Stundenplan anschreibt.
Ich bin so gerührt. Gerührt von der Lehrerin, die sich voller Hingabe den Kindern widmet. Gerührt von den Kindern, die mit strahlenden Gesichtern die Tafel betrachten. Und Gerührt von meinem Ehemann, der all das erst möglich gemacht hat. Und mit damit das größte Geschenk gemacht hat, das ich mir vorstellen könnte.
„Das ist einfach –“, setze ich an, kann es jedoch nicht in Worte fassen. 
Ich blicke zu Santiago hinauf dessen Blicke immer noch auf den Kindern liegen, die eifrig ihre Fächer begutachten und bereits versuchen, die einzelnen Buchstaben zu entziffern.
„Danke“, flüstere ich, greife nach seiner Hand und recke mich zu ihm hinauf, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. „Danke, dass du das alles zugelassen hast.“
Ich spüre den Druck seiner Hand auf meiner, während er lächelnd zu mir hinunterblickt. „Ohne dich hätte ich das niemals zustande gebracht“, sagt er leise und zieht mich in eine Umarmung.
Während ich die Stimmen von den Kindern und León höre, die im Chor Buchstaben aufsagen, die Señorita Marquez ihnen vorsagt, vergrabe ich mein Gesicht in Santiagos Halsbeuge und atme seinen Geruch ein, der mich seltsamerweise an Heimat erinnert. Ich fühle mich geborgen. So geborgen, als würde ich mich in den Armen meines Vaters befinden.
„Doch, das hättest du“, murmle ich, ohne mich von der Stelle zu rühren. „Du bist ein großartiger König, Santiago. Der beste, den sich dein Volk jemals hätte wünschen können.“
Santiago schüttelt den Kopf. Vorsichtig umfassen seine Hände meinen Kopf und drehen ihn sanft in seine Richtung. „Ich bin nichts ohne deinen Beistand, Lucía“ Langsam beugt er sich vor und berührt mit seinen Lippen meine Stirn. „Gar nichts.“

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt