"Carazita", sagt Fernando, als der Zug die Grenzen übertritt und wir in einer – mir ganz fremden – Welt ankommen.
Das Land unseres Feindes habe ich als Kind immer mit einer grauen Landschaft verglichen, die voller Steine, dürren Feldern und diesen viel zu modernen Hochhäusern ist.
Umso überraschter bin ich darüber, was ich jetzt zu Gesicht bekomme:
Der Zug fährt durch eine grüne Berglandschaft, in deren Tälern dunkelblaue Seen in der Sonne glitzern. Die einzelnen Bergspitzen sind mit Eis und Schnee bedeckt und je näher wir der Hauptstadt kommen, desto bunter scheint der Ausblick, den wir aus dem Fenster haben, zu werden: bunt gelegte Mosaikwände, die sich durch die Straßen schlingen, dazwischen weiße, flachdachige Häuser mit viel Glas, die sich mit angelegten Parkanlagen, Bäumen und Blumen abwechseln und im Zentrum von alledem Tausende von Menschen.
Ich kann meinen Augen nicht trauen. "Warum hat mir nie jemand gesagt, wie wunderschön es ist?", will ich wissen und blicke Fernando erwartungsvoll an.
"Ihr solltet nicht vergessen, dass Carazita Jahrzehnte lang unser Feind war, Eure Hoheit", bemerkt dieser und sieht aus dem Fenster. "Selbstverständlich hat sich dieses Feindbild aufrechterhalten."
Meine Blicke folgen den scheinbar nicht enden wollenden Schienen vor uns. Wenn dieses Feindbild noch existiert, wie kommt es, dass Avenia einen direkten Verkehrsweg nach Carazita besitzt?
In dem Moment öffnet sich eine Abteiltür und Rosa tritt zurück in unser Abteil. "Wir sind gleich da, Lucía", sagt sie und winkt mich zu sich. "Wir sollten für sie alles vorbereiten."
Für sie?, frage ich mich, komme jedoch nicht dazu, ihr die Frage zu stellen, denn sie ist bereits damit beschäftigt, mein Haar und mein Kleid zu richten und mich in Richtung Tür zu scheuchen.
Der Zug fährt bereits in einen von Laternen beleuchteten Bahnhof ein, allerdings kann ich meine Umgebung aufgrund des schnellen Zugs lediglich schemenhaft an mir vorbeibrausen sehen.
"Lächeln", erinnert mich Rosa, als der Zug immer langsamer wird und schließlich auf dem langen Bahngleis zum Stehen kommt.
Keine Sekunde später öffnen sich auch die Zugtüren und ich erwarte, eine Menschenmenge vor mir zu erblicken, für die ich lächeln soll...
Doch dem ist nicht so.Das Bahngleis ist leer, bis auf einen muskulären Mann in dunkelblauer Uniform, der auf uns zukommt.
Er hat leicht gebräunte Haut, unter der ein paar wenige Falten zu erkennen sind, trägt die schwarzen Haare kurzgeschnitten und hat den Schritt eines erfahrenen Soldaten.
"Eure königliche Hoheit", begrüßt er mich und verbeugt sich tief vor mir. "Ich fühle mich geehrt, Euch in Carazita willkommen heißen zu dürfen."
"Die Ehre ist ganz auf meiner Seite –", antworte ich und versuche ein Lächeln zustande zu bringen.
"Nennt mich bitte Francisco", stellt er sich vor und erwidert mein Lächeln. Er scheint etwa vierzig Jahre alt zu sein.
"Freut mich, Sie kennenzulernen"
Franciscos Blicke wandern von mir zu Rosa und Fernando. Auf einmal wirkt er nervös. Seine Handbewegungen werden abrupt und unkontrolliert. "Der Wagen befindet sich direkt vor dem Bahnhof", erklärt er den beiden und weist ihnen die Richtung. Schlagartig ist es so, als wäre nichts gewesen.
"Wenn Ihr mir bitte folgen wollt, Eure Hoheit" Er hält mir den Arm hin und ich nehme ihn etwas zögernd an.
Rosa und Fernando befinden sich mit meinem Gepäck bereits einige Schritte vor uns, während meine Blicke meine Umgebung erkunden. Das Bahngleis ist mit bunten Blumensträuchern geschmückt und hinter dem, aus weißem Marmor bestehenden, Bahnhofsgebäude kann ich im fahlen Licht der Abenddämmerung gigantische Berggipfel erkennen.
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romance„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...