Kapitel 30

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„Das Essen war köstlich, wie immer“, schwärme ich und lege meine Serviette zur Seite. „Dir hat es doch auch geschmeckt, nicht wahr, Santiago?“ Meine Blicke wandern zu meinem Ehemann, der neben mir sitzt und die Reste seines milden Hühnchens isst.
„Exzellent“, antwortet er und wirft mir einen grimmigen Blick zu.
„Ihr hättet uns Eure Unverträglichkeit mitteilen können, Eure Majestät“, beteuert meine Mutter und lächelt.
„Nein, nein!“, stößt Santiago hervor und schüttelt den Kopf. „Ich möchte Euch doch nicht noch mehr Umstände bereiten.“
Ein leises Lachen entspringt meinem Mund und ich spüre, wie mich Santiago unter dem Tisch leicht gegen das Bein tritt.
Das Räuspern meines Vaters ertönt und lenkt meine volle Aufmerksamkeit auf ihn.
„Ich werde mich in mein Arbeitszimmer begeben“, sagt er und erhebt sich von seinem Stuhl. „Ich wünsche Euch noch eine erholsame Nacht, Eure Majestät.“
Mit diesen Worten verlässt er den Speisesaal, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und mir erwartungsvoll in die Augen zu blicken, ehe er die Türen hinter sich zu fallen lässt.
Ich schlucke. Ich weiß ganz genau, was er mir damit sagen will.
Genau drei Minuten warte ich, ehe ich ebenfalls aufstehe. „Ich werde noch ein wenig ausreiten. Ich habe die Pferde schon so lange nicht mehr gesehen.“
„Das ist eine sehr gute Idee“, antwortet mir Santiago überraschend und steht ebenfalls auf.
Erschrocken blicke ich ihn an und rufe – ehe ich es unterdrücken kann „Nein!“
Schockiert sehen Santiago und meine Mutter mich an.
„Wieso denn nicht, mein Liebling?“, fragt meine Mutter zaghaft und sieht zwischen Santiago und mir hin und her.
Stammelnd sehe ich Santiago an. Er wirkt verletzt und seine Augen weichen den meinen betrübt aus.
„I-Ich wollte dich nicht verletzen, Santiago“, stottere ich nervös und verflechte meine Finger zitternd ineinander. „Es ist nur so… ich habe mich bereits mit jemandem verabredet…“
„Oh, etwa mit Pablo?“ Meine Mutter lächelt. „Er hat jeden einzelnen Tag nach dir gefragt. Er muss dich sehr vermisst haben.“
Ich beiße mir auf die Lippe. Einen größeren Fehler, als jetzt von Pablo zu sprechen, hätte meine Mutter nicht machen können. Natürlich habe ich Santiago bisher nichts von meinem besten Freund erzählt. Aber die Tatsache, dass er es nun auf diese Art und Weise erfährt und ich ihn somit erst recht verletzt habe, tut mir sehr weh.
„Ja“, murmle ich nach einer Weile und versuche Santiagos wütende Blicke zu ignorieren. „Wir werden nur eine Stunde fort sein.“, sage ich, als wäre das eine Entschuldigung. Eine sehr, sehr schlechte Entschuldigung, um ehrlich zu sein.
„Eine gute Nacht, Mamá“, sage ich leise und drehe mich, ehe ich den Speisesaal verlasse, noch einmal zu Santiago um. „Bis später, Santiago.“
„Bis später, Eure Majestät“
Ich schlucke. Mit keinen anderen Worten hätte er mich härter treffen können.

„Worüber wolltest du mit mir reden, Papá?“, frage ich, die Blicke aus dem Fenster gerichtet.
„Über deine Ehe, Lucía“, erwidert er und dreht sich zu mir um. „Besonders über deinen Schwiegervater.“
Ich nicke befürwortend. „Ich gehe davon aus, dass du von den Vorfällen gehört hast?“
„Wie könnte es auch anders sein? Diese Vorfälle fanden stellenweise an unserer Grenze statt!“ Seine, zur Faust geballte, Hand zittert leicht. So habe ich ihn noch nie in meinem ganzen Leben gesehen. Sein Zustand macht mir regelrecht Angst.
„Dieser Vertrag wurde mit deinem Großvater vereinbart. Er hätte erneuert werden müssen, denn mit dem Tod eines der Vertragsmitglieder verfällt die Vereinbarung.“
Ich nicke. Das dachte ich mir schon. Diese Rechtslage hat mir mein Vater bereits vor vielen Jahren beigebracht. 
„Es geht nicht nur um den Anschlag auf Santiago“, spricht er weiter, diesmal ruhiger. „Es geht vor allem um den Anschlag, während deiner Krönung. Ich habe Informationen erhalten, dass es Vermutungen gegeben hat, eine Gruppe von Ausgestoßenen sei dafür verantwortlich?“
Sofort schüttle ich den Kopf. „Nein, Papá! Die Menschen des Elendsviertels haben nichts mit alledem zu tun! Wir arbeiten mit ihnen zusammen und haben bereits ein erfolgreiches System entwickelt, mit dem wir sie aus ihrer Armut befreien konnten!“
Ich nehme seine Hand und drücke sie fest. „Ich… ich weiß, dass sie es nicht waren… Aber Papá… ich habe eine Frage… zu König Mateo Castilla…“
Er runzelt die Stirn und geht vorsichtig einen Schritt auf mich zu. „Was ist mit ihm, Lucía?“
Nervös hole ich Luft. Ich erzähle ihm alles. Von der ersten Begegnung mit Santiagos Vater, über den Befehl, mehr Waffen an den Grenzen zu positionieren, den Anschlag auf Santiago, den Selbstmord von Señor Gomez und zum Schluss von dem Befehl, Santiago meine Liebe zu beweisen.
„Er denkt, ich bin für den Anschlag auf Santiago verantwortlich!“, flüstere ich. „Er glaubt, dass ich ihn töten lassen will, damit nur ich die Regierung über Carazita habe!“
Mein Vater nimmt meine Hände in seine und streicht mir beruhigend darüber. „Beruhige dich, Lucía!“, raunt er. „Alles, was du sagst, kann und wird gegen dich verwendet werden! Mateo versucht alles Mögliche, um dich für sein Volk unbeliebt zu machen“
„Aber wieso, Papá? Wieso tut er all diese Dinge?“
„Damit er dich der Untreue beschuldigen kann. Damit er dich des Thrones entziehen kann und seinem Sohn somit die Regierung über zwei Länder zusteht!“ Kurz hält er inne. „Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass es zu dieser Hochzeit kommt…“
„Es ist zum Wohle unseres Volkes“
„Es ist zum Wohle meiner Tochter! Und den Sohn von König Mateo Castilla auf dem Thron Avenias sitzen zu sehen, kann niemals ein Heil für unser Volk sein!“
„Das würde Santiago niemals zulassen… Wir haben so viel erreicht… Er würde mich nicht verraten…“
„Du kennst diesen jungen Mann gerade mal drei Monate. Bist du dir sicher, dass du ihn so gut kennengelernt hast, dass du über das, was in seinem Kopf vorgeht, so sicher sprechen kannst?“
„Offenbar kenne ich ihn besser, als du!“, rufe ich. „Santiago ist der fürsorglichste und liebevollste Mensch, dem ich jemals begegnet bin.“ Ich senke den Kopf. „Ich kann… Ich will mir einfach nicht vorstellen, dass das sein Plan ist.“
„Ich kenne die Castillas seit vielen Jahren, Lucía. Und ich kenne dich. Ich liebe dich, meine Tochter. Und ich will nicht, dass du ein solches Unglück erfährst, wie es sich gerade anbahnt.“
„Ich… ich weiß, dass du das nur aus Liebe tust, Papá… aber das, was du sagt, passt nicht zu dem Mann, den ich in Santiago sehe.“
„War er dir gegenüber niemals herrisch? War er niemals arrogant und hochmütig in deiner Anwesenheit?“
„Er… Als…“
„Du kannst mich nicht belügen, meine Tochter.“
Ich seufze. „Er war… Anfangs gab es Situationen, in denen er…“, setze ich an, doch ich schaffe es nicht, meinen Satz zu vollenden. Doch meinem Vater genügen anscheinend die Worte, die er bisher von mir gehört hat.
„Solange König Mateo dich überwacht, darf dir kein Fehler unterlaufen. Du musst ihn dazu bringen, dir nichts anzutun…“ Abrupt hält mein Vater inne. 
„Was ist?“
„Du musst ihnen vortäuschen verletzlich zu sein. Das Volk muss Mitleid mit dir haben und deinen Schutz verlangen... Ansonsten bist du tot.“
„Und wie soll ich das anstellen?“
„Ich weiß, dass es eine Sünde ist, doch uns bleibt keine andere Möglichkeit“
„Du machst mir Angst, Papá“
Mein Vater hält die Luft an, ehe er sich von mir entfernt und sich zu einem der Bücherregale dreht. „Mateo wird dir nichts antun, wenn er weiß… dass du das Kind von Santiago in dir trägst“
Schlagartig setzt mein Herz für eine Sekunde aus. Schockiert, entsetzt und irritiert blicke ich meinen Vater an. „Papá, aber… das ist doch genau das, was Mateo von mir verlangt hat! Genau darauf ist er doch aus! Er will, dass seine Nachkommenschaft gesichert ist!“ Kurz halte ich inne. „Was hindert ihn eine Schwangerschaft, wenn er mir nach der Geburt des Kindes genauso etwas antun kann?“ 
„Mateo ist ein Mann, der zu seinen Worten steht. Wenn du ihm gehorchst, dann wird er dir auch nichts antun.“ Mein Vater dreht sich zu mir um. Seine Augen sind trüb.
„Du hast die Wahl zwischen der Abmachung mit Mateo oder deinem Tod. Wäge gut überlegt ab, was einen größeren Wert für dich besitzt. Denn ansonsten, meine Tochter, wirst du das Neujahr nicht mehr überleben.“ Er sieht mich tief an. „Schwöre es mir, Lucía. Schwöre mir, dass du die Abmachung erfüllen wirst.“
Tausende von Gedanken schwirren in meinem Kopf hin und her und lassen die Welt um mich leicht drehen.
Ich halte die Luft an. „Ich schwöre es“

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt