Ich bin in Dunkelheit gehüllt, als ich meine Augen das nächste Mal öffne. Meine Lider fühlen sich so schwer an, als könnten sie jeden Moment wieder zufallen und auf meinem Körper liegt eine solche Last, wie von schweren Steinen.
Mein Atem geht nur stoßweise und ich brauche mehrere Anläufe bis es mir gelingt, mich aufzusetzen. Ich kann es nur verschwommen wahrnehmen... und trotzdem ist da dieses Licht vor mir, das so hell ist, dass es mich blendet.
Das Licht inmitten der Dunkelheit, kommt es mir und schlagartig halte ich inne.
Ist das das Ende gewesen? Fühlt sich so der Tod an? Ist der Tod so einsam, so... plötzlich?
Abrupt halte ich die Luft an. Denn in diesem Augenblick habe ich etwas gespürt. Etwas, das ich noch nie zuvor gespürt habe.
Langsam und mit zitternden Händen fahre ich an meiner Taille hinab und zucke zusammen. Dicker Mull bedeckt meine Seite und lässt einen scharfen Schmerz durch meinen Körper fahren. Doch das ist es nicht, was mein Herz schneller schlagen lässt.
Ich schlucke.
Es ist die Wölbung meines Bauches.
Und es ist eine Stimme. Eine Stimme, von der ich bis vor Kurzem noch fest überzeugt war, sie nie wieder in meinem Leben hören zu können.
Mit zitternden Beinen stehe ich auf und gehe langsam auf den Lichtspalt zu, der mit jedem Schritt größer wird.
"Auch wenn Ihr an ein solches Unglück nicht glauben wollt, Eure Majestät, müssen wir dennoch auf das Schlimmste vorbereitet sein", höre ich eine mir bekannte Stimme.
"Lucía wird nicht sterben. Sie ist stark. Stärker, als der Hass meines Vaters."
Mein Herzschlag beschleunigt.
"Und dennoch liegt die Zukunft zweier Länder in Eurer Hand"
Eine Pause. Das leise Rascheln von Papier ist zu hören.
"Ein Land", höre ich ihn leise flüstern und mein Atem setzt für einen kurzen Moment aus.
"Ich werde unsere Länder wieder vereinen. Lucía würde das gefallen."
Eine Weile liegt tiefes Schweigen in dem Raum. Dann sind stramme Schritte zu hören und wenige Sekunden später schließt sich die Tür des Arbeitszimmers.
Ich kann hören, wie er langsam ausatmet und vorsichtig öffne ich die Tür ein weiteres Stück... und stehe ihm gegenüber.
Er scheint ins Leere zu blicken. Mit dem Gesicht auf das geöffnete Fenster gerichtet, starrt er in die Ferne. In seiner Hand ein kleiner, beinahe unscheinbarer Gegenstand.
Unwillkürlich schnappe ich nach Luft und im selben Moment dreht er sich um und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Seine Lippen bewegen sich tonlos, formen meinen Namen und ehe ich auch nur einen Ton herausbringe, ist Santiago bereits auf mich zugestürmt und drückt mich so fest an sich, als müsse er sich vergewissern, dass ich tatsächlich vor ihm stehe.
"Du lebst", wispert er und vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. "Du lebst... Oh Gott, ich dachte schon... Ich hatte solche Angst, dass du vielleicht wirklich..." Ein Schluchzen entringt seiner Kehle und er hebt den Kopf, um mich aus glänzenden Augen anzusehen.
Noch nie habe ich Santiago weinen gesehen. Er ist immer der starke, rationale und doch auch emotionale König gewesen. Doch so sehr ich auch dachte, ich hätte vollständig hinter seine Fassade sehen können: In diesem Moment wird mir klar, dass ich mich getäuscht habe.
Vorsichtig streichen seine Finger über meine Wange. "Wie konntest du dich in so eine Gefahr bringen? Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich ohne dich hätte machen sollen? Wie ich ohne dich hätte weiterleben sollen?"
"Du konntest ohne mich weiterleben", erwidere ich, doch Santiago schüttelt den Kopf. "Kein Schmerz dieser Welt lässt sich mit dem vergleichen, den ich gespürt habe, als ich von dir getrennt war. Ich hätte dich niemals gegen deinen Glauben stellen dürfen." Er senkt die Stimme. "Ich hätte niemals glauben dürfen, dass du mich betrügst."
"Nein, das hättest du nicht tun dürfen", murmle ich und blicke auf seine Hand. Unser Ehering befindet sich in seiner Handinnenfläche. Jener Ring, den ich mit all den Erinnerungen hier in Carazita zurückgelassen habe.
"Wie bin ich hierher gekommen?", frage ich, die Blicke weiterhin auf den goldenen Ring gerichtet.
Santiagos Miene verhärtet sich plötzlich und seine blauen Augen nehmen einen dunklen Ton an. "Als Pablo dich... Ich habe versucht deine Blutungen zu stoppen" Mit flüchtigen Bewegungen streicht er mir über die verbundene Wunde und eine Gänsehaut durchfährt meinen Körper.
"Und dann habe ich plötzlich Lärm von draußen gehört. Die Tür wurde aufgerissen und zwei Männer standen vor uns. Francisco und ein weiterer Soldat, den ich nicht kannte." Geistesgegenwärtig spielt er mit einer meiner zerzausten Haarsträhnen.
"Was? Aber wie konnte Francisco in San Salvador sein?"
Santiago zuckt mit den Schultern. "Die beiden konnten Pablo überwältigen. Als er dich auf dem Boden gesehen hat... blutüberströmt..." Er hält die Luft an. "Ich habe ihn in diesem Augenblick so abgrundtief gehasst, dass ich ihn am liebsten umgebracht hätte." Kurz hält er inne und sein Gesicht verzieht sich schmerzvoll. "Doch dann habe ich gesehen, dass er weint. Immer und immer wieder hat er deinen Namen geflüstert und den Dolch angestarrt."
Schlagartig wird mir eiskalt und als könnte Santiago meine Gedanken lesen, zieht er mich enger an sich und legt seine Arme um mich. "Er hat dich beweint, Lucía", flüstert er, "weil er dich geliebt hat."
Abrupt hebe ich den Kopf. "Hat... Du sagtest er hat mich geliebt?" Meine Stimme bricht und selbst ohne eine Antwort hätte ich bereits gewusst, was er mir damit sagen will.
"Es tut mir so unendlich leid, Querida", flüstert er und streicht mir sanft über die Hände, die ich ineinander verkrampft vor mir halte.
"Der Schuss erklang, als er nach draußen geführt wurde. Es wusste keiner von uns, dass er eine solche Waffe bei sich hatte."
Fassungslos schüttle ich den Kopf. Immer und immer wieder. Nein, nein, das ist nicht möglich... Er hätte nicht... Er durfte nicht...
Eine eisige Leere breitet sich in meinem Inneren aus und ich spüre, wie mir Santiago in sanften, tröstenden Bewegungen über die Schultern streicht. Doch merkwürdigerweise fließen keine Tränen. Ich spüre Trauer. Doch wieso spüre ich zeitgleich ein Gefühl von... Beruhigung?
"Es ist okay, wenn du nicht weinen kannst" Santiago sieht mich liebevoll an und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. "Er hätte dich beinahe umgebracht" Ich sehe, wie seine Blicke hinunterwandern und an meinem Bauch haften bleiben. "Euch. Er hätte euch umgebracht."
Er hebt den Kopf wieder und sieht mich mit traurigen Augen an. "Ich... ich hätte dich niemals verlassen dürfen, Lucía. Als du mir damals sagtest, dass du unser Kind in dir trägst... Ich... ich hatte keine Ahnung."
"Santiago-", setze ich an, doch er fällt mir ins Wort: "Nein, Lucía! Was ich getan habe ist unverzeihlich. Ich habe dich im Stich gelassen, obwohl ich dir damals vor meinem Volk - vor Gott - geschworen habe, dich mit meinem Leben zu beschützen. Bis dass der Tod dieses Bündnis bricht." Er schluckt. "doch selbst wenn einer von uns den Krieg nicht überlebt hätte: Das hätte nichts an meinen Gefühlen für dich geändert. Ich liebe dich, Lucía. Ich liebe dich, seit dem Moment, in dem du mir den Wasserkrug über den Kopf geschüttet hast. Und selbst, wenn du mich verlässt und mir niemals verzeihen kannst. Ich könnte niemals auch nur versuchen, jemand anderen als dich zu wollen. Du... ihr seid es, was ich will. Was ich immer wollen werde." Seine blauen Augen senken sich zu mir hinab. Erwartungsvoll. Wartend auf die Antwort, die ich ihm geben werde. Und verängstigt darüber, dass ich ihn verlassen könnte.
Doch mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich formuliere Worte in meinem Kopf, doch sie gelangen nicht über meine Lippen. Stattdessen spüre ich die Wärme seiner Hände, die mich immer noch umfasst halten und ein Kribbeln durch meinen Körper fahren lassen. Ich spüre meinen Herzschlag, der in mir widerhallt. Und ich spüre die Liebe, die er mir mit seinen Augen spendet. Die mich bereits von Anfang an in ihren Bann gezogen haben.
Ungläubig schüttle ich den Kopf.
Wie betäubt fährt Santiago zurück. Seine Blicke wandern von dem Ring in seiner Hand zu meinem Gesicht. Seine Miene ist schmerzverzerrt. "Lucía-", setzt er mit brüchiger Stimme an, doch ehe er weitersprechen kann, habe ich ihn bereits zu mir hinuntergezogen und meinen Mund auf seinen gepresst.
Keuchend schnappt er nach Luft und ich spüre, wie sich der Griff seiner Hände verstärkt. Feste, als wolle er mich nie wieder loslassen, zieht er mich noch näher an sich und erwidert den Kuss mit einer solchen Heftigkeit. Sein Mund streicht über meinen und zieht den Kuss gefühlvoll in die Länge.
Doch ich kann ihm diese eine Wahrheit nicht weiter vorenthalten.
Sanft vergrabe ich meine Finger in seinen Locken, ehe ich mich ein wenig zurücklehne, bis ich ihm in die Augen sehen kann.
"Du musst dich nicht entschuldigen", sage ich leise und schlucke, ehe ich fortfahre: "Ich... Ich habe dir nicht die volle Wahrheit gesagt. Dein Vater hat nicht nur einen Thronfolger von mir verlangt" Ich hole tief Luft. "Er wollte auch, dass ich ihm und deinem Volk meine Liebe zu dir beweise." Ich senke den Kopf. "Anfangs, da ist mir das noch bewusst gewesen. Doch dann wurdest du an den Grenzen getroffen... Und da wurde mir erst mal klar, dass ich dir gar nichts vorspielen muss. Ich wollte dich nicht verlieren. Ich konnte dich nicht verlieren. Und ich konnte auch nicht nur so tun, als würdest du mir etwas bedeuten." Meine Stimme bricht und ich sehe wieder zu ihm hinauf. "Ich kann dir nicht sagen, ob es zu diesem Zeitpunkt schon Liebe war. Doch jetzt weiß ich es mit Sicherheit." Meine Hand streicht vorsichtig über seine Wange. "Ich liebe dich, Santiago. Und ich will niemanden außer dir. Das heißt... wenn du mich noch willst."
Eine Weile sieht er mich mit erstarrter Miene an, bis sich seine Mundwinkel traurig anheben. "Ich weiß von der Abmachung mit meinem Vater"
Verwirrt schüttle ich den Kopf. "Du weißt es? Aber woher?"
In langsamen Bewegungen dreht er den Ring in seiner Hand. "Meine Mutter mir davon erzählt. Kurz bevor ich nach San Salvador gegangen bin."
Ich bin wie erstarrt. Wenn ich auch erwartet hätte, von jemandem hintergangen zu werden: Von Königin Virginia hätte ich es niemals erwartet. Ich dachte, sie hat mir vertraut. Ich dachte ich konnte ihr vertrauen. Doch dann erinnere ich mich an ihr schmerzverzerrtes Gesicht, als sie das Bild von Pablo und mir in der Hand gehalten hat. Und plötzlich wirkt dieser Gedanke gar nicht mehr so abwegig. Meine Hand, die eben noch Santiagos Wange berührt hat, senkt sich langsam.
Anscheinend begreift er, denn er hebt abwertend die Hände. "Nein, nein! Nicht so, wie du glaubst." Er räuspert sich und umgreift meine Hände mit seinen. "Sie hat mir erzählt, wie dich mein Vater manipuliert hat. Du brauchst mir nicht beweisen, dass du mir deine Gefühle nicht vorgetäuscht hast." Er zieht meine Hände zu sich und küsst sie sanft. "Ich liebe dich. Und natürlich will ich dich noch. Du wirst für immer meine Einzige sein. Meine einzige Liebe. Meine einzige Frau." Ich spüre, wie er mir den Ehering an den Finger schiebt. "Meine einzige Königin", seine Hände wandern federleicht über meinen Bauch, "und die einzige Mutter meines Kindes."
"Ich liebe dich", wispere ich und küsse ihn wieder, schenke ihm meine ganze Liebe. Meine ganze Seele. Mein ganzes Herz.
Plötzlich wird die Tür hinter uns geöffnet und eine Stimme unterbricht uns: "Eure Majestät, Ihr seid tatsächlich bei Bewusstsein!"
Überrascht und verdutzt zugleich starre ich Fernando an, der in diesem Augenblick das Arbeitszimmer betreten hat.
"Fernando? Wie kommen Sie hierher?", frage ich. "Sind meine Eltern auch hier?"
Santiago lächelt mich von der Seite an. "Er und Francisco haben uns das Leben gerettet. Ich will mir gar nicht vorstellen, was ohne sie passiert wäre."
Ein leichtes Lächeln erscheint in Fernandos Gesicht. "Ihr müsst wissen, Eure Majestät... Ich besuche hier meine Familie"
"Familie?", will ich fragen, als eine zweite Person neben ihm erscheint. Francisco.
"Eure Majestät, ich bin so erleichtert, dass es Euch gut geht. Die doctora ist bereits auf dem Weg."
Und da setzen sich die Puzzleteile auf einmal zusammen. Die bernsteinfarbenen Augen. Die gleichen Falten entlang der Augenwinkel. Das fast unscheinbare Muttermal an der Schläfe, das mir bei den vielen Trainingseinheiten aufgefallen ist.
Deshalb also hat sich Francisco um mich gekümmert. Deshalb habe ich bei ihm dieses Gefühl von Heimat verspürt.
Vor mir stehen zwei Zwillingsbrüder.
Getrennt durch den Krieg und nun endlich wieder vereint.
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romance„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...