Kapitel 25

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Und er erzählt mir vom Bürgerkrieg.
Er erzählt mir von dem radikalen Präsidenten, von dem Volk, das gegen ihn und seine Regierung gekämpft hat, von den Soldaten, die wahllos auf Menschen geschossen und gegen die er und seine Soldaten gekämpft haben. Und er erzählt mir von einer jungen Priesterin, die zu den Armen und Verwundeten gesprochen hat, die ihnen Hoffnung auf die Gnade und das Heil Gottes gemacht hat.
„Sie war unglaublich“, sagt er leise. „Sie hatte nichts und dennoch war sie alles für die Menschen. Sie hat für sie gekämpft, hat ihnen Mut gemacht“ Er macht eine Pause. Seine Augen verdunkeln sich ein wenig. „An jenem Morgen wollte ich sie im Gottesdienst der kleinen Kapelle besuchen. Ich bin nie wirklich gläubig gewesen, meine Erziehung ließ das nicht zu. Aber sie hat mich in dieser Hinsicht verändert.“ Seine Stimme bricht abrupt ab. Ich spüre, wie seine Hände zittern.
„Sie haben die Kapelle bis auf das letzte Bisschen dem Erdboden gleichgemacht. Und was meine Soldaten nicht zerstören konnten, das hat das Feuer zerstört.“
Schlagartig stockt mir der Atem.
„Sie haben sie in der Kapelle eingeschlossen und dafür gesorgt, dass sie elendig verbrennt. Sie war eine zu große… Ablenkung, sagten sie.“
Vollkommen erstarrt blicke ich Santiago an, finde jedoch keine Worte für das, was man ihm angetan hat.
Deswegen fällt es ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen und sich Menschen zu öffnen. Er hat seinen Soldaten vertraut… und als Gegenleistung haben sie dieses Mädchen grausam ermordet… aus einem noch viel grausameren Grund.
„Das… das tut mir alles so furchtbar leid“, wispere ich und spüre, wie meine Augen feucht werden.
„Dieser Moment verfolgt mich jede Nacht“, spricht er weiter. „Ich sehe die verschlossene Kapelle, aus der die hohen Flammen strömen und höre ihre verzweifelten Schreie –“ Schlagartig verstummt er. Seine Blicke sind nach unten gerichtet, während ich seine Hand immer noch umklammert halte.
„Du hast sie geliebt… nicht wahr?“, frage ich, auch wenn diese Tatsache mehr als eindeutig ist.
„Mehr als alles andere“
Ich zucke zusammen. Seine Worte lassen mein Herz in tausend winzige Scherben zerbersten. Ich habe keine Chance. Er wird auf ewig von diesen Albträumen verfolgt werden und an seine große Liebe erinnert werden… mit der ich nicht einmal mithalten kann.
Ich löse meine Hand aus seiner und stehe langsam vom Bett auf. Ich muss allein sein. Ich kann ihm mit diesem Wissen nicht mehr in die Augen sehen…
„Lucía!“
Ich will gerade durch die Tür in das Treppenhaus verschwinden, als ich seine Arme von hinten um mich spüre, die mich sanft, aber bestimmend zurückhalten.
„Schlaf jetzt weiter, Santiago“, sage ich ruhig und versuche mich aus seiner Umarmung zu lösen, doch er ist zu stark.
„Bleib bei mir“, bittet er mich und vergräbt den Kopf in meinem Haar. „Du bist die Einzige, die es bisher geschafft hat, diese Albträume zu stoppen.“
Abrupt halte ich inne und denke an die Nacht zurück, in der ich diejenige gewesen bin, die ihn gebeten hat, zu bleiben.
Ich schlucke. Am Morgen darauf hat er keine dunklen Schatten unter den Augen gehabt.
Doch ich schüttle den Kopf. „Ich kann nicht…“, setze ich an, ehe ich langsam von ihm umgedreht werde, sodass seine Blicke auf mir liegen.
„Das alles ist… Jahre her“, sagt er und streicht mir sanft über die Wangen, um meine Tränen wegzuwischen. „Wir leben jetzt, hast du gesagt. Und mein Leben ist nichts, wenn ich nicht dich an meiner Seite haben kann.“ Seine Hand umfasst mein Gesicht und streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Ich bitte dich, Lucía“, flüstert er und noch bevor ich ihm eine Antwort geben kann, beugt er sich zu mir hinunter und küsst mich langsam und gefühlvoll und gibt mir damit ein merkwürdiges Gefühl von Zuhause.
Doch ich bin nicht Zuhause.
Mitten in seiner Umarmung erstarre ich.
Ich bin nicht bei meinen Eltern…
Querida, was ist los?“
Unwillkürlich zucke ich bei dem Ton seiner sanften, fürsorglichen Stimme zusammen. Noch nie in all den Monaten hat er einen solchen Namen für mich verwendet. Mein Herz flattert wild gegen meine Brust und ich spüre, wie Santiagos Finger vorsichtig über meine Wange streichen. „Weswegen weinst du?“, flüstert er und seine Blicke bleiben an meinen Augen heften. Seine Blicke scheinen mich regelrecht zu durchbohren und ich habe das Gefühl, als könne er bis ganz tief in mein Innerstes sehen.
Ich will seinen Augen ausweichen, doch ehe es dazu kommen kann, schluchze ich lautlos auf und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter.
Ich lasse meinen Tränen freien Lauf und gewähre den Ängsten und Sorgen Zugang, die sich seit der Abmachung mit König Mateo in meinem Kopf eingenistet haben.
„Schsch“ Santiago drückt mich fest an sich und streicht mir besänftigend über meinen Kopf, während er mir leise, spanische Worte ins Ohr flüstert, die ich jedoch kaum wahrnehme. Meine Gedanken sind lediglich bei meiner Familie.
„Ich will nach Hause, Santiago“, wispere ich unter Tränen und klammere mich fest an ihn. „Ich weiß, ich sollte –“
Doch bevor ich meinen Satz vollenden kann, umfasst Santiago mein Gesicht und küsst mich sanft auf die Stirn.
„Du solltest nun schlafen“, sagt er, greift nach meiner Hand und lässt mich auf sein Bett niedersinken. Mit einer Hand deckt er mich zu, während die andere immer noch über meine Finger streicht.
„Ich bin bei dir. Du brauchst keine Albträume mehr zu haben.“
Ich will etwas erwidern, denn immerhin ist er derjenige, den seit vielen Jahren schreckliche Albträume heimsuchen, doch seine Worte scheinen mich zu hypnotisieren. Meine Augen werden immer schwerer und ich kann gerade noch erkennen, wie Santiagos Arme sich um mich legen, ehe ich in der angenehmen Wärme der Decke versinke und in einen tiefen, traumlosen Schlaf falle.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt