Kapitel 20

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Mit leisen Schritten öffne ich die Tür zu seinem Schlafzimmer, das mittlerweile von Sonnenlicht durchflutet wird. Langsam stelle ich das Tablett auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett ab und setze mich auf den Stuhl, der sich daneben befindet.
Meine Blicke wandern zu Santiago, der immer noch, wie vor ein paar Stunden, auf dem Bett liegt. Sein Verband wurde ihm entfernt und lediglich ein weißes Stück Mull bedeckt die Schusswunde.
Vorsichtig blinzelnd öffnet Santiago die Augen und blickt mich ein wenig verwundert an. „Lucía?“, murmelt er. „Was tust du hier?“
„Ich wollte sehen, wie es dir geht“, sage ich und greife zaghaft nach seiner Hand. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Ein sanftes Lächeln entsteht auf seinem Gesicht. „Mach dir keine Sorgen“
Ich schüttle den Kopf. „Das mache ich mir aber“, erwidere ich und nehme die kleine Schüssel und ein weiches Tuch von dem Tablett. „Das kann jetzt kurz brennen.“, warne ich ihn, ehe ich das Tuch in die Flüssigkeit tauche und vorsichtig damit über seine Wunden im Gesicht tupfe.
Santiago zuckt kurz zusammen, doch nach ungefähr zehn Sekunden müsste die Wirkung bereits eintreten. Und tatsächlich… Unter meinen Fingern spüre ich, wie sich seine Muskeln wieder langsam entspannen.
„Das ist unglaublich… Was ist das?“, will er wissen.
Unwillkürlich muss ich lächeln. „Eine Kräutertinktur mit betäubender Wirkung“, erkläre ich. „Wir verwenden sie sehr oft zu Hause.“ Meine Blicke wandern zu seiner Brust, an der sich der Mull befindet. Langsam und sanft, um ihm nicht wehzutun, entferne ich den Mull… und erstarre im selben Augenblick.
Die Schusswunde ist lediglich eine Handbreite von seinem Herzen entfernt.
„Sag mir, was ich nicht glauben soll. Dass du im Auftrag deines Vaters meinen Sohn geheiratet und einen Mörder beauftragt hast, um das gesamte Land zu einem Teil Avenias zu machen?“
Ich spüre, wie meine Hände unkontrolliert zittern und die Worte seines Vaters immer lauter werden.
„Santiago, es tut mir so leid“, schluchze ich. „Ich hätte niemals gewollt, dass du so sehr verletzt wirst… Hätte ich gewusst, dass du dorthin gehst…“
„Lucía“, höre ich seine sanfte Stimme und halte einen Augenblick inne. „Bitte, hör auf zu weinen.“
Ich hebe den Kopf ein wenig und blicke in seine blau funkelnden Augen. „Du hättest sterben können“, flüstere ich entsetzt. „Du hättest tot sein können und dann… was wäre dann?“
„Dann wäre Carazita eine wundervolle Königin erhalten geblieben“, erwidert er. „Und ich wäre wenigstens in der Gewissheit gestorben, dir ein würdiger Ehemann gewesen zu sein.“
Mein Atem stockt und ich starre Santiago betroffen an. Er versteht mich nicht. Er erkennt nicht, was ich ihm damit sagen will. Er glaubt, mir ginge es nur darum.
„Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Lucía –“, setzt er an, doch ich falle ihm ins Wort: „Du glaubst tatsächlich, das ist mir wichtig? Dass du ein würdiger Ehemann warst?“ Ohne es kontrollieren zu können wird meine Stimme immer lauter, während mein Herz immer schneller schlägt.
„Mir ging es nie darum, dass du deine Pflicht erfüllst und dass ich im Falle deines Todes alleine regieren müsste!“, versuche ich ihm begreiflich zu machen und hole tief Luft.
Wieso versteht er nicht? Hat er es nicht vergangene Nacht gespürt? Während der Krönungszeremonie? Spürt er diese Spannung zwischen uns beiden nicht schon seit dem Augenblick meiner Anreise? Vieles ist möglich, aber wenn eine Sache nicht möglich ist, dann das, dass ich mir diese Gefühle die ganze Zeit nur eingebildet habe.
„Mir geht es um dich!“, verdeutliche ich ihm. „All die Jahre, die ich auf meine Zwangsheirat gewartet habe, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als jemanden, der mich liebt.“ Ich senke den Kopf und blicke auf unsere ineinander verschränkten Hände. „Ich weiß nicht genau, was das zwischen uns ist“, spreche ich weiter, „aber ich weiß, dass es etwas Besonderes ist. Und zwar nicht nur für mich.“
Meine Stimme verebbt schlagartig, während ich in seinen blauen Augen zu versinken scheine. Ich weiß, dass es nicht das Richtige sein wird, genauso, wie ich weiß, dass ich ihm diese Gefühle offenbare, um meinen Vater zu schützen, doch in diesem Augenblick brauche ich es einfach.
Schnell, noch ehe er auf meine Worte antworten kann, beuge ich mich zu ihm hinunter und lege meine Lippen auf seine.
Ich brauche sein Entgegenkommen und seine Zustimmung.
Und obwohl ich niemals damit gerechnet habe, bekomme ich seine Zustimmung.
Womöglich sollte sich unser erster richtiger Kuss auf irgendeine Art und Weise besonders anfühlen, doch das Einzige, das ich wahrnehme ist die unnatürliche Wärme, die von ihm ausgeht und mich beinahe um meinen Verstand bringt.
Abrupt löse ich mich von ihm und befühle seine Stirn, die immer noch leicht warm vom Fieber ist, doch die Kräuter sollten sein Fieber innerhalb weniger Stunden weiter senken lassen.
„Wie geht es dir?“, frage ich, blicke jedoch an ihm vorbei. Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, ihm in die Augen zu sehen. Und dennoch spüre ich seine intensiven Blicke auf mir liegen, als könnten sie bis in mein tiefstes Inneres blicken. Und diese Tatsache macht mich mehr als nervös.
„Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem es mir besser ging“, antwortet Santiago, setzt sich langsam auf und hebt eine Hand, um mir sanft über die Wange zu streichen.
Ein Schauer durchströmt meinen Körper und lässt ihn erbeben, während seine Finger über meine Haut streichen und meine Wangen zum Glühen bringen.
Mit einem Finger senkt er meinen Kopf ein wenig, sodass ich gezwungen bin, ihn anzusehen. Seine blauen Augen scheinen mich zu durchbohren, während sein Gesicht durch das Lächeln erhellt wird, mit dem er mich eben ansieht.
„Ich weiß nicht, wie du das machst, Lucía“, spricht er weiter und spielt sanft mit meinem Haar, „aber mit dir an meiner Seite konnte ich das erste Mal seit langem wieder durchschlafen.“
Ich erwidere sein Lächeln, allerdings verschwindet es auch genauso schnell, wie es erschienen ist. „Santiago, ich muss dir etwas sagen“, wechsle ich das Thema, während ich in meinem Kopf immer noch das Bild des toten Ministers sehen kann.
„Etwas sehr Wichtiges“
Ich hole tief Luft und berichte ihm schließlich von den vergangenen Stunden. Von Señor Gomez und dem Auftraggeber, von dem er gesprochen hat. Dabei beobachte ich Santiagos Gesichtsausdruck, der erst noch sanft ist, sich dann allerdings immer mehr anspannt.
Als ich fertig bin, sind seine Augen verdunkelt und sein Gesicht wirkt blass.
„Haben du und deine Eltern irgendeinen Feind innerhalb des Landes?“, frage ich zögerlich.
Erschrocken starrt mich Santiago an. „Du glaubst tatsächlich, es handelt sich um eine Person im Landesinneren?“
„Wie soll er sonst Zugriff auf euer Militär haben?“, entgegne ich und blicke ihn erwartungsvoll an. „Santiago, wir müssen etwas unternehmen! Du und deine Eltern sind in großer Gefahr!“
„Nein“, sagt er auf einmal und sieht an mir vorbei, als würde er über etwas nachdenken. „Nein, diese Menschen haben es lediglich auf uns beide abgesehen.“
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Und was ist mit den ständigen Anschlägen auf euer Königshaus, von denen du gesprochen hast? Was ist, wenn ein und dieselbe Person dahintersteckt?“
Eine Weile sieht er stumm ins Leere. „Du hast recht“, antwortet er langsam und sieht mich an. Auch wenn er es nach außen hin vielleicht nicht zeigt, doch seine Augen verraten mir, dass er Angst hat.
„Lucía“, sagt er plötzlich und mein Herz setzt für eine Sekunde aus. Seine Stimme zittert merkwürdig und klingt brüchig.
„Diese Anschläge sind eine große Gefahr für uns, das stimmt. Dennoch dürfen wir unsere königlichen Pflichten nicht vernachlässigen.“ Seine Hand wandert langsam zu meiner und umschließt sie sanft. „Ich kann dich zu nichts zwingen, deswegen frage ich dich… bitte dich darum… Stehst du mir in dieser Zeit zur Seite? Trotz der Gefahr, der wir ausgesetzt sind?“ Der Druck seiner Hand verstärkt sich ein wenig. „Vertraust du mir?“, fragt er leise.
Ich spüre mein Herz wild gegen meine Brust pochen, während ich das Gefühl habe, tausend Schmetterlinge würden durch meinen Bauch auf und ab flattern. Wieso lösen seine Worte immer wieder solche Gefühle in mir aus?
Doch auf einmal muss ich an die Abmachung mit König Mateo zurückdenken und meine Hand zittert leicht, als ich seinen Händedruck erwidere.
„Das tue ich“

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt