Kapitel 45

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Die Sonne ist noch nicht einmal aufgegangen, als ich die Zeltplane meines Schlafplatzes vorsichtig zur Seite schiebe, um die Wachen, denen vor lauter Erschöpfung die Augen zugefallen sind, nicht aufzuwecken. Fernando hat sich einfach nicht überreden lassen und darauf bestanden, mich rund um die Uhr bewachen zu lassen.

Doch das, worauf ich mich die letzten Stunden vorbereitet habe, muss ich alleine zu Ende bringen.

Mit leisen, aber schnellen Schritten entferne ich mich von den Zelten, die nebeneinander aufgereiht stehen und eine Mauer zwischen dem staubigen Gebirgstal von El Salvador hinter mir und dem Stadtzentrum vor mir bilden.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich hole tief Luft und ziehe mir die Kapuze meines Umhanges tiefer ins Gesicht, während ich mit leicht zitterndem, aber entschlossenem Griff das Kurzschwert umklammere, das ich an dem Gürtel der Soldatenuniform befestigt habe.

Bei dem Gedanken an das gestrige Aufeinandertreffen mit den Soldaten entfährt mir ein schmales Lächeln. So gut jeder einzelne von ihnen ausgebildet ist – keiner von ihnen hat mitbekommen, wie ich eine der am Zelteingang aufeinandergestapelten Uniformen beim Verlassen des Zeltes an mich gedrückt habe. Denn selbstverständlich ist mein Kleiderschrank nicht für Kriege ausgestattet.

Sofort fühle ich mich zurück in meine Kindheit versetzt, in der ich beinahe täglich während des Trainings Hosen und Trägertops getragen habe. Und auch jetzt fühle ich mich so sicher wie nie, während ich mich mit überraschend sicheren Stiefelschritten dem Stadtzentrum nähere.

Plötzlich hebt sich ein Schatten hinter mir auf und ich ertappe mich dabei, wie mein Herz für einen kurzen Augenblick stillzustehen scheint.

Abrupt bleibe ich stehen, meine Hand immer noch an meinem Schwert.

"Buenos dias, señorita", begrüßt mich ein älterer Mann, der mit einem kleinen Schubwagen an mir vorbeigelaufen kommt. "Darf ich Ihnen behilflich sein?"

Verwirrt, überrascht und erleichtert zugleich nehme ich die Hände von der Waffe und atme auf. "Ich bin auf dem Weg zum Zentrum", erwidere ich schnell. "Wie weit ist es denn noch?"

Der Mann sieht nach vorne und zwickt die Augen ein wenig zu, als wolle er genauer sehen.

"In zehn Minuten müssten sie dort sein", sagt er.

"Tatsächlich? Ich sehe noch gar keine Gebäude. Was ist mit der Handelsstraße passiert, die hier lag?"

Der Mann schüttelt den Kopf. Plötzlich mischt sich Traurigkeit in sein Gesicht. "Die Häuser, die die Angriffe überstanden haben, können Sie an vielleicht zwei Händen abzählen", erklärt er. "Was wollen Sie überhaupt dort? Das Zentrum ist kein Ort für eine junge Frau!"

"Vielen Dank für Ihre Hilfe", erwidere ich, während ich seine Antwort ignoriere und mit schnellem Schritt weitergehe.

Doch mit jedem Schritt schwindet meine Hoffnung auf Santiago zu treffen. Wenn das wahr ist, was der Mann gesagt hat, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass er unbeschadet geblieben ist?

Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet und die Anspannung in meinem Inneren von Minute zu Minute immer weiter ansteigt.

Und dann erblicke ich es. San Salvador.

Oder man sollte lieber sagen, das was noch davon übrig ist.

Fassungslos bleibe ich vor den Stadtmauern stehen, in denen ein riesiges Loch klafft, wie eine offene Wunde.

Ich steige über abgebrochenen Mauerstein und finde mich schließlich in einer Seitenstraße wieder. Ich schnappe nach Luft. Das, was sich vor mir auftut, nimmt mir den Atem.

Dass El Salvador kein reiches Land ist, ist mir schon immer bewusst gewusst gewesen. Ich weiß nicht, was ich mir vorgemacht habe. Vermutlich habe ich die Hoffnung gehabt, dass wenigstens die Hauptstadt erahnen lässt, dass El Salvador wenigstens einen kleinen Anteil an Geldmitteln besitzt.

Doch selbst diese Hoffnung erlischt bis zum letzten Bisschen.

Vor mir erblicke ich nichts außer Trümmer und Ruinen aus hellem Sandstein. Die warme Luft flirrt vor mir und ein weißer Staubfilm liegt über der Stadt, als wäre es gerade einmal fünf Minuten her, seit die Angriffe verübt wurden.

Langsam arbeite ich mich nach vorne, steige über Steinbrocken und stütze mich an noch stehenden Hausmauern ab, als ich beinahe ausgerutscht wäre.

Als meine Blicke sich auf den Boden unter mir richten, um zu sehen, was mich beinahe zum Fallen gebracht hätte, gefriert mir das Blut in den Adern.

Dunkles Blut ist aus der Ruine neben mir ausgetreten und in einem schmalen Fluss in der Sonne zu einer schmierigen Masse angetrocknet.

Keuchend schnappe ich nach Luft und halte mir die Hände vors Gesicht. Der plötzliche Metallgeruch erschlägt mich beinahe, doch je weiter ich der Stadtmitte komme, desto mehr wird der Blutgeruch von einem anderen, noch viel penetranteren Geruch übertönt.

Und dann sehe ich es.

Oder sollte ich besser sagen: sie?

Mir entfährt ein leiser Schrei und ich stütze mich zitternd an der Mauer neben mir ab.

All die Menschen, all die Einwohner San Salvadors, die den Anschlägen zum Opfer gefallen sind, liegen auf dem Marktplatz in ihren eigenen Blutlachen.

Frauen, Männer, Kinder. Vor keinem haben sie Halt gemacht.

Deshalb haben mich die Soldaten so angesehen.

Deshalb sind sie so außer sich gewesen.

Deshalb haben sie keine Hoffnung mehr.

Meine Knie geben unter mir nach und ich sacke auf den staubigen Boden, während meine Blicke weiter auf die Leichen gerichtet sind. Beinahe automatisch greift meine Hand zu meiner Kette. Toten muss man die letzte Ehre erweisen, haben mir meine Eltern verinnerlicht. Und mag man es als Glück beschreiben, dass sie mir diese Botschaft so sehr verinnerlicht haben: denn in diesem Augenblick, in dem ich im Schatten der Ruinen auf dem Boden knie, scheinen mich die vermummten Gestalten wenige Meter vor mir nicht zu bemerken.

Abrupt halte ich inne. Ein eiskalter Schauer durchfährt meinen Körper und ich drücke mich noch näher an den Mauerstein der Ruine.

Doch die maskierten Gestalten würdigen mich keines Blickes. Mit schnellen Schritten laufen sie an den leblosen Körpern vorbei und verschwinden aus meinem Sichtfeld.

Erleichtert atme ich auf und will mich gerade erheben, als ein weiterer Schatten folgt und ich mich gerade im richtigen Moment ducke, ehe ich gesehen werde.

Doch diese Gestalt unterscheidet sich von denen zuvor. Sie trägt keine Maske und selbst wenn es zehn, vielleicht fünfzehn Meter sein müssen, die uns trennen, reicht ein kurzes Reflektieren seiner blauen Augen, um ihn wiederzuerkennen.

"Du lebst!", wispere ich und schnappe lautlos nach Luft. Der Boden scheint nun vollständig unter mir nachzugeben und ich sinke gegen die Mauer, ungläubig und gleichzeitig unendlich glücklich den Kopf schüttelnd.

"Du lebst", sage ich. Immer und immer wieder, als müsste ich mich selbst davon überzeugen.

Und noch ehe ich es registrieren kann, bin ich bereits aufgesprungen und folge ihm in die Ruinen der Stadt.

Doch ich habe ihn bereits aus den Augen verloren, als ein stechender Schmerz durch meinen Kopf jagt und ich schlagartig in tiefe Schwärze gezogen werde.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt