Wie in Trance bringen mich meine Beine aus der Bibliothek hinaus. Mein Körper zittert, wie Espenlaub und eine Kälte, kühler als Eis, durchzieht meinen Körper.
Wie soll ich es schaffen, ihn so zu hintergehen?, hallt es durch meinen Körper, während ich den Weg zurück zu dem Zimmer von Santiago und mir einschlage.
Das Lügen ist eine Sünde. Und du bist keine Sünderin, Lucía. Du darfst ihn und sein Vertrauen nicht missbrauchen und benutzen, nur damit du am Leben bleibst.
Ich höre das stetige Geräusch meiner Schritte an den Wänden widerhallen und bleibe abrupt vor der weißen Flügeltüre stehen.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich lege meine Hand auf die Tür – und halte inne. Unwillkürlich wandern meine Finger zu meiner Kette. Das Kreuz fühlt sich kalt an, wie ein Eisblock um meinen Hals.
Selbstlosigkeit ist eine Tugend, kommt es mir. Nicht der Wille, sich selbst das Leben zu retten, auf Kosten Anderer.
Ich will meine Hand wieder zurücknehmen, will mich von diesem Zimmer entfernen, irgendwohin gehen, nur so weit weg von hier, wie möglich.
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür abrupt und ich wäre beinahe mit Santiago zusammengestoßen.
„Lucía“, sagt er.
Ich habe ihn zunächst nicht erkannt, da er seine Uniformjacke ausgezogen hat und nun ein schlichtes, weißes Hemd trägt. Seine Stimme klingt sanft. Trotzdem kann ich die Trauer spüren, die er zu verbergen versucht.
„Das war aber eine kurze Stunde“, bemerkt er trocken. Er sieht mich nicht direkt an, sondern entgeht meinen Blicken, mit denen ich ihn mustere.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Lügen… nun muss ich schon wieder lügen! Wie ich es abgrundtief hasse, zu lügen.
„Ähm, ja… er muss wohl länger in der Universität bleiben“, sage ich schnell.
Santiago hebt eine Braue. „Universität?“
„Pablo studiert“, erkläre ich und sehe an ihm vorbei in das Zimmer. Es ist mir unangenehm, diese Dinge hier und jetzt, draußen auf dem Flur zu besprechen.
„Er möchte Lehrer werden und unterrichtete mich privat.“
Santiago nickt lediglich. „Ihr scheint euch sehr nahe zu stehen“, bemerkt er leise. „So, wie deine Mutter über ihn gesprochen hat.“
„Wir sind Freunde“, stelle ich klar. „Ich habe ihn kennengelernt, als ich drei Jahre alt war. Unser Bibliothekar, sein Adoptivvater, hat ihn gelehrt.“ Ich mache eine kurze Pause. „Seit ein paar Jahren ist Enrico so blind, dass er nicht mehr alleine arbeiten kann und Pablo hilft ihm nun in der Bibliothek, damit er sich das Studium finanzieren kann.“
Einen Augenblick lang sieht mich Santiago schweigend an. „Das tut mir leid“, sagt er dann.
Wie von selbst legt sich meine Hand in seine und drückt sie an mich. „Du musst dir keinerlei Sorgen um ihn machen, Santiago. Pablo und ich sind und waren immer Freunde. Nicht mehr und nicht weniger. Er ist wie ein großer Bruder für mich.“
Ich lächle sanft und streiche mit dem Daumen über seinen Handrücken. „Ich verspreche es dir.“
Kurz verharren Santiagos Blicke starr auf mir, doch dann wird seine Mimik weicher und er drückt mich mit einer Bewegung feste an sich.
Erleichtert hole ich Luft und schließe die Augen. Ich kann seinen angenehmen Geruch vernehmen, nach Zitronengras und frischer Luft und für einen kurzen Moment wünsche ich mir, die Zeit würde stehenbleiben.
Doch das ist nicht möglich. Denn ich habe meinem Vater ein Eid abgelegt.
„Lass uns bitte reingehen, Santiago“, flüstere ich und lege den Kopf in den Nacken, sodass ich ihn ansehen kann. Seine blauen Augen sind meinen so nahe, wie sie es bisher nur zweimal gewesen sind. Sie sind wunderschön.
Mit einer Hand führt er mich in das Zimmer und schließt die Türe hinter uns, während die andere immer noch meine Umschlossen hält.
„Was ist los?“, will er wissen und sieht mich besorgt an. „Stimmt etwas nicht?“
Ich hole tief Luft. „Es ist nichts“, antworte ich leise und versuche ein Lächeln zustande zu bringen. „Es stimmt alles.“
Santiago schüttelt den Kopf. „Aber dann verstehe ich nicht –“
„Du musst es nicht verstehen“, falle ich ihm ins Wort. Unruhig wandern meine Blicke von seinen Augen zu der verschlossenen Tür. Es ist so unfassbar kompliziert…
Wieso schlägt mir mein Herz bis zum Hals? Wieso macht mich seine Nähe so nervös?
Sind dies nun tatsächlich deine wahren Gefühle? Oder redest du sie dir nur ein, weil du deinem Vater einen Eid geleistet hast?, fragt eine Stimme in mir, doch ich bin weiterhin von den blauen Augen meines Gegenüber abgelenkt. Sie haben mich vollständig in Besitz genommen.
„Du lügst mich an“
Mein Atem stockt. „Was?“
Sein Gesicht nähert sich mir noch weiter. Ich spüre seinen Atem auf meiner Haut und ein Schauer durchfährt meinen Körper.
„Ich denke, du hast mich verstanden“
„E-Es ist nichts… Ich bin nur ein wenig erschöpft“
Langsam senkt er den Blick und umfasst meine Hände. „Du zitterst“, bemerkt er und hebt den Kopf.
Ich sehe nach unten, während ich versuche, meinen Atem und mein Herz zu beruhigen. Doch seine Nähe und seine Berührungen bewirken eher das Gegenteil.
„Sieh mich an, Lucía“, sagt er leise.
Ich spüre seinen Finger, der mich sanft am Kinn berührt und meinen Kopf anhebt, sodass ich gezwungen bin, ihn anzusehen.
Die Abmachung! Du fühlst das alles, wegen der Abmachung!
„Ich sehe dich so gerne an“, flüstert er. Seine freie Hand steckt mir sanft eine Haarsträhne hinters Ohr, während die andere immer noch an meinem Kinn ruht und mir in leisen, flüsternden Bewegungen über die Wange streicht.
Ich weiß nicht, was ich tun soll… Der Drang in mir, es zu wagen und damit die Abmachung einzuhalten, ist gewaltig. Doch genauso groß ist der Schmerz, der sich in meinem Herzen anstaut, wenn ich daran denke, dass ich mit seinen Gefühlen spiele. Und die Trauer darüber, Santiago könne all die Anschläge geplant haben, um Avenia für sich zu haben.
„Was machst du nur mit mir, Lucía?“, will er wissen. „Du beeinflusst mein gesamtes Leben. Du beeinflusst mich. Es macht mich wahnsinnig, wenn ich daran denke, jemand anderes könnte dich für sich alleine haben.“ Seine Stimme klingt sanft, so sanft, dass ich alle Fragen, die sich im meinem Kopf gebildet haben, beiseiteschiebe.
„Wieso fühle ich das?“, fragt er. Er senkt seinen Kopf, bis seine Stirn die meine berührt und seine Augen mir noch näher kommen.
„Wieso habe ich den Drang, dich immer in Sicherheit wissen zu lassen, dich immer beschützen zu wollen? Wieso kann ich diese Gefühle nicht unterdrücken, die deine pure Anwesenheit in mir auslöst?“
Ich schließe die Augen. Sein Atem hinterlässt ein angenehmes Brennen auf meiner Haut, was mein Herz noch schneller schlagen lässt.
„Sag mir, Lucía“, bittet er und ich öffne meine Augen wieder, nur um mich erneut in dem Blau der seinen zu verlieren. „Wieso will ich alles in meiner Macht Stehende tun, sodass du nur mir allein gehörst?“
Eigentlich hätte ich es kommen sehen sollen, doch mein Kopf ist viel zu beschäftigt gewesen, nicht an meinen Eid und die Worte meines Vaters zu denken. Doch nun kann ich das Funkeln in seinen Augen erkennen. Ich spüre den leichten Druck seiner Hände an meinem Gesicht, die mich langsam näher zu ihm ziehen und noch den letzten Abstand zwischen uns füllen.
Dieser Kuss unterscheidet sich von allen anderen. Die Sanftheit, mit der Santiago mir sonst immer entgegenkommt, ist nun vollständig verflogen und hat einer brennenden Leidenschaft Platz gemacht, die mir das Gefühl gibt, zu fliegen.
Er drückt mich noch fester an sich und löst sich abrupt von mir, nur um mich mit einer Bewegung hochzuheben und auf dem großen Bett abzusetzen.
Ganz ohne mein Zutun strecke ich die Arme nach ihm aus, um die Lücke zwischen uns zu schließen. Ich erwidere seinen Kuss mit einer solchen Heftigkeit und einer solchen Verzweiflung, dass sich eine unnatürliche Hitze in mir ausbreitet.
Sehnsüchtig streichen seine Finger von meinem Gesicht zu meinem Hals und umfahren meinen Körper.
Ich seufze leise und ohne, dass ich es kontrollieren kann, dringen mir die Worte meines Vaters ans Ohr.
„Mateo wird dir nichts antun, wenn er weiß… dass du das Kind von Santiago in dir trägst“
Unbewusst fahren meine Hände sein Hemd hinauf und lösen den obersten Knopf.
Ein leises Stöhnen dringt aus seiner Kehle, ehe er meine Hand umfasst und zu mir hinabsieht. „Lucía“, sagt er und schnappt nach Luft. „Tu es nicht.“
Ungläubig sehe ich ihn an. „Wieso nicht?“
„Weil das bedeuten würde, dass mein Vater gewonnen hat“, erwidert er. „Und ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich dir das antun will.“
Schlagartig hört mein Herz auf zu schlagen. Doch das kann nicht sein. Er kann diese Worte nicht gesagt haben…
Ich schlucke. Denn das würde bedeuten, dass er mir das Befolgen der Abmachung erheblich erschwert. Wenn er mir nicht sogar seine Gefühle nur vorspielt.
Aber wieso hören sich diese Worte dann so ehrlich an?
Kurzatmig hole ich Luft. „Du… du sagst…“, stammle ich, ehe meine Stimme vollkommen abbricht.
„Ich bin es leid, dir immer weiter etwas vorzuspielen, Lucía“, sagt Santiago und fährt sanft meine Gesichtskonturen nach. „Erinnerst du dich noch, wie du mir am Anfang einen Krug Wasser über den Kopf geschüttet hast und mich dann gefragt hast, ob ich in ein Gewitter gekommen sei?“
Tonlos nicke ich.
„In diesem Augenblick wusste ich, dass ich dich eines Tages entweder umbringen oder mich bedingungslos in dich verlieben werde“
„Wie charmant“, bemerke ich.
„Und genauso ist es auch passiert“, spricht er weiter. „Ich liebe dich, Lucía Elena de Garcia. Ich liebe dich mehr als mein Leben.”
Unwillkürlich muss ich lächeln. „Oh, ich denke, das hast du bereits unter Beweis gestellt“
Santiago lacht leise. „Und ich würde es immer wieder tun“, flüstert er. „Ich würde dir immer wieder beweisen, wie sehr ich dich liebe. Egal, welche Risiken es für mich trägt.“
Ich schüttle den Kopf. Auf einmal jagt er mir Angst ein. „Das darfst du nicht, Santiago. Ich will nicht, dass du dein Leben opferst, nur um mir irgendetwas zu beweisen.“
„Aber genau das will ich. Ich will, dass du weißt, wie viel du mir bedeutest, Lucía.“
Wenn ich deinen Worten doch nur glauben könnte, denke ich verzweifelt und blicke an ihm vorbei auf die Wand gegenüber von uns.
„Das brauchst du mir nicht beweisen“, lüge ich, auch wenn ich mir so, so sehr wünsche, meine Worte würden der Wahrheit entsprechen. „Das weiß ich auch so.“
Ein Lächeln blitzt in Santiagos Gesicht auf und ehe ich ihn daran hindern kann, beugt er sich zu mir nach vorne und streicht sanft mit seinen Lippen über meinen Mund.
Zunächst erwidere ich seinen Kuss langsam und verliere mich für einen Augenblick in diesem Moment zusammen mit ihm. Doch dann wird mir auf einmal klar, in welcher Lage ich mich befinde.
„Santiago“ Zaghaft drücke ich ihn von mir.
„Was ist los?“, fragt er und sieht besorgt zu mir hinunter. „Stimmt irgendetwas nicht?“
Ich lächle schmal. „Ich bin müde“, sage ich lediglich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. „Lass uns schlafen gehen.“
Und noch während er mich zudeckt und mit einem Arm um meiner Seite geschlungen einschläft, liege ich noch stundenlang wach und denke über die Gespräche mit meinem Vater und Santiago nach.
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romansa„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...