Die Zeit, die wir in dem leeren Zug sitzen und hinaus in die – an uns vorbeiziehenden – Landschaften starren, fühlt sich für mich bereits wie mehrere Stunden an.
An den Abteiltüren stehen Soldaten positioniert und auch in den restlichen Abteilen patrouillieren Männer in dunkelblauen Uniformen.
Santiago und ich haben bisher kein einziges Wort miteinander gewechselt. Ich fühle mich beobachtet, so beobachtet, dass ich mich in der Anwesenheit der Soldaten nicht traue, auch nur ein falsches Wort in den Mund zu nehmen. Nicht, wenn jeder der Soldaten König Mateo davon berichten könnte.
Daher schweige ich lieber und blicke stur aus dem Fenster, während ich spüre, wie Santiagos Blicke immer wieder zu mir wandern. Er ist besorgt.
„Möchtest du etwas trinken, Lucía?“, versucht er meine Aufmerksamkeit zu erlangen und schiebt mein Wasserglas näher zu mir, doch ich schüttle stumm den Kopf.
Ich weiß nicht, wie sehr ich mich in dieser Situation und unter diesen Voraussetzungen zusammenreißen kann. Am liebsten würde ich schreien, die Brosche von mir reißen und König Mateo den Teufel an den Hals wünschen.
Mein Atem stockt. Doch das darf ich nicht… Diese Sünde zu begehen wäre es nicht wert. Schnell greift meine Hand zu meiner Kette und fährt über meinen Kreuzanhänger. Innerhalb all der Monate, die ich in Carazita verbracht habe, habe ich ihm so wenig Aufmerksamkeit geschenkt, wie noch nie.
Vergib mir, Dios, bitte ich stumm und blicke aus dem Fenster hinaus, in den blauen Himmel.
„Das ist ein wunderschöner Ring, den du trägst“, sagt Santiago so plötzlich und unerwartet, dass ich unwillkürlich zusammenzucke.
Er mustert mich ruhig. „Möchtest du mir verraten, was das Symbol bedeutet?“
Ich spüre seine Hand sanft über meine streichen und eine Gänsehaut durchfährt meinen Körper. Kurz bin ich davor, meine Hand zurückzuziehen, doch damit würde ich mich vor König Mateo sofort verraten…
Ich schüttle den Kopf und blicke zu einem der Soldaten an den Abteiltüren.
Santiagos Griff um meine Hand nimmt beinahe unmerklich zu und ein feines Lächeln entsteht auf seinem Gesicht. Er nickt langsam und zieht meine Hand ein wenig zu sich.
So sehr ich ihm auch nach den vergangenen Monaten vertraue… es fühlt sich dennoch an, als würde ich einen Teil meiner Familie hergeben.
Doch das ist irrsinnig, kommt es mir. Santiago hat mir von dem Bürgerkrieg in El Salvador erzählt, hat mir von dem Mord an seiner ersten großen Liebe berichtet und mir den wahren Grund seiner schlaflosen Nächte verraten.
Und da bringe ich es nicht einmal über mich, ihm die Bedeutung des Olivenzweiges zu erklären?
Ich schäme mich vor mir selbst und gerade, als ich den Kopf heben will, höre ich Santiago sagen: „Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst, Lucía“
Leise atmend hebe ich das Kinn ein wenig an, sodass ich seine blauen Augen vor mir sehen kann. Ich schüttle den Kopf, drücke seine Hand und bringe ein Lächeln zustande. „Später“, flüstere ich und drehe den Kopf ein wenig – und halte schlagartig inne.
Mein Herz setzt für eine – mir unendlich lange vorkommende – Zeit aus. Meine Augen weiten sich und keine zwei Sekunden später spüre ich, wie mir eine einzelne Träne über die Wange läuft.
Ich kenne diesen Gebirgsverlauf.
Ich kenne diesen schmalen Wasserlauf, der sich von der Bergspitze, bis hinunter ins Tal zieht und in einem weiten Fluss und Kilometer weiter in das Meer mündet.
Ich kenne das intensive Grün der Bäume, an denen der Zug vorbeibraust.
Ich kenne die Olivenplantagen.
Entsetzt und verwirrt zugleich drehe ich mich zu Santiago um, dessen Blicke immer noch auf mir liegen. Seine Augen strahlen. „Willkommen Zuhause, Eure Majestät“
„D-Das…“, setze ich an, ehe meine Stimme abbricht und ich erneut aus dem Fenster blicken muss.
Santiago lacht. „Du kannst mir glauben, Lucía. In zehn Minuten werden wir in den Bahnhof einfahren.“
Ich schüttle den Kopf. Ich habe das Gefühl, als würde sich die Welt um mich herumdrehen, als würden alle Gedanken in meinem Kopf umherschwirren.
„W-Warst du deswegen heute Morgen weg?“ Meine Stimme gerät ins Stocken, während meine Hand, die immer noch in seiner liegt, unkontrolliert zu zittern beginnt.
„Du warst so lange von hier weg“, sagt er und senkt den Kopf, „und erst jetzt habe ich begriffen, dass du Heimweh hattest. All die Zeit.“ Er hebt den Kopf. Seine Augen verdunkeln sich. „Es tut mir so unendlich leid, Lucía. Ich war so sehr mit mir selbst und mit meinem Land beschäftigt, dass ich –“
Doch weiter kommt er nicht, denn in diesem Augenblick bin ich bereits von meinem Platz aufgesprungen und ihm um den Hals gefallen.
„Danke“, flüstere ich und drücke ihn fest an mich, sodass mich sein angenehmer Geruch einhüllt. „Das ist das schönste Geschenk, das du mir hättest machen können“
Sanft umschließt er mich mit seinen Armen und streicht mir über mein Haar.
„Ich hätte schon viel früher handeln sollen. Bitte vergib mir, ich habe mich, wie ein… ein echter…“ Er scheint nach dem richtigen Wort zu suchen.
„Idiota? Imbécil? Tonto?“, helfe ich ihm auf die Sprünge und unterdrücke ein Lächeln.
„- wie ein echter tonto verhalten“ Er seufzt. „All die Zeit habe ich dich für eine fromme Prinzessin gehalten… Kannst du mir verraten, wo du solche Wörter gelernt hast?“
Ich rolle mit den Augen. „Ich bitte dich! Du kannst froh sein, dass ich diese Wörter verwendet habe und nicht viel schlimmere.“
Er lacht leise. „Dass du sehr leidenschaftlich reagieren kannst, weiß ich ja bereits seit unserer ersten Begegnung“
Plötzlich löst sich der Zopf, zu dem meine Locken zusammengebunden waren und ich spüre, wie seine Finger durch mein offenes Haar fahren.
„Schon viel besser“, sagt er leise und ich spüre, wie er lächelt. Dann nimmt er eine Armlänge Abstand zu mir, um mir in die Augen sehen zu können. Das Lächeln aus seinem Gesicht ist genauso schnell verschwunden, wie es entstanden ist.
„Versprichst du mir etwas?“
„Was?“
Langsam fährt er mir mit einem Finger über die Wange, um noch die letzte Träne fortzuwischen. „Sobald wir in Avenia sind, möchte ich, dass du dich verhältst, wie sonst auch. Ich möchte, dass dein Volk und deine Familie die Lucía Elena de Garcia sehen, die du wirklich bist.“ Seine Blicke wandern hinunter zu der Brosche. „Und das unabhängig von der Tatsache, dass du meine Heimat repräsentieren sollst. Sei du selbst.“ Er küsst mich auf die Stirn. „Denn so liebt dich nicht nur Avenia, sondern auch Carazita.“
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romance„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...