Kapitel 43

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Meine Hände zittern immer noch vollkommen unkontrolliert, selbst nachdem wir uns bereits seit einer Stunde in unserem Hochgeschwindigkeitszug befinden.

Ich versuche ruhiger zu Atmen, doch jedes Mal, wenn ich mir einrede, es würde alles gut werden, breche ich in leisen Tränen aus.

Das ist vollkommen normal, in dieser Situation, versichere ich mir und dennoch scheint jeder weitere Versuch fehlzuschlagen.

Immer wieder blicke ich aus dem Fenster in der Hoffnung, irgendetwas zu sehen, das nicht auf einen Krieg hindeutet. Und bisher wurde ich auch nicht enttäuscht. Bisher.

Bis wir die Grenzen zu El Salvador überwunden haben und ich das Schreckensszenario unter mir erblicke, das mir die Luft zum Atmen nimmt.

"Wir müssen die Ankunft vorbereiten, Eure Hoheit", informiert mich einer der Wachen. "Zum Zentrum ist derzeit keinerlei Kontaktaufnahme möglich."

Ich schlucke, nicke dann jedoch. "Die Militärstützpunkte befinden sich fünfhundert Meter vor dem Zentrum. Ihre Hilfe wird man ausschließlich dort gebrauchen."

Die Wache scheint einen Augenblick zu stutzen. "Unsere Hilfe, Hoheit?"

In diesem Moment erscheint Fernando hinter mir. "Eure Hoheit, wir müssen anhalten! San Salvador hat weitere Attacken im Zentrum gemeldet!"

Ich nicke und blicke stumm auf den Siegelring um meinen Finger.

Damals wollte Santiago wissen, wofür er steht.

Er steht nicht nur für unsere Ölproduktion.

Nein.

Er steht für Frieden. Für Frieden und Hoffnung. Dieselben Botschaften, dieselben Emotionen, die eine weiße Taube im Alten Testament hervorrufen konnte.

Abrupt stehe ich auf und sehe von Fernando zu der Wache. "Es wird alles genauso ablaufen, wie ich es veranlasst habe. Bereiten Sie die Ankunft an den Militärstützpunkten vor."

Die Wache hält eine Sekunde inne, ehe sie nickt und im Vorderteil des Zuges verschwindet.

Fernando starrt mich ungläubig an. "Ich habe Eure Befehle niemals hinterfragt, Eure Hoheit", sagt er leise. "Doch das, was Ihr verlangt übertritt die Grenze der Selbstlosigkeit. Ihr stürzt Euch in den sicheren Tod!"

"Darüber bin ich mir im Klaren, Fernando", erwidere ich, während ich in den schwarzen Umhang schlüpfe, der mich für die Außenwelt unkenntlich machen soll. "Erinnern Sie sich an einen weiteren Befehl, den ich Ihnen gegeben habe?"

Fernando schluckt. "Prinz Santiago..."

"...wird unversehrt nach Carazita gebracht", vollende ich seinen Satz und halte ihm meine Hand hin. "Bitte geben Sie mir die Waffe."

Zögernd streckt er seinen Arm aus und hält mir das bronzene Kurzschwert meines Großvaters hin. "Eure Hoheit –"

"Sie wissen, wie lange mich mein Vater im Nahkampf unterrichtet hat", erinnere ich ihn und sichere das Schwert an einem Gürtel. "Ich denke Sie erinnern sich noch gut an unsere täglichen Übungseinheiten, oder Fernando?"

Er seufzt, nickt dann jedoch. "Wie könnte ich sie vergessen, Eure Hoheit?"

"Ich denke, dann verstehen wir uns", sage ich in dem Moment, in dem der Zug langsamer wird. "Ich möchte, dass Sie mich in das Zentrum begleiten", sage ich an Fernando gewandt. "Sie sind einer der Wenigen, denen ich in dieser Situation vertraue. Ich möchte, dass Sie mit mir zusammen das Zentrum nach...", ich schlucke, "... Überlebenden durchsuchen."

"Eure Hoheit", erwidert Fernando zögerlich.

Ich blicke zu ihm hinauf und sehe in sein Gesicht, das plötzlich blass geworden ist.

"Ich... Ich bin mir nicht sicher...", stottert er und ich kann erkennen, dass seine Hände leicht zittern. "Was ist, wenn... wenn Prinz Santiago..."

Bei dem Klang seines Namens zucke ich zusammen. "Was?", falle ich ihm ins Wort. Denn obwohl ich ganz genau weiß, was er mir damit sagen will, kann und will ich nicht glauben, dass auch nur die Möglichkeit besteht, dass dieses Szenario eintreffen könnte. Es darf einfach nicht eintreffen!

Fernando räuspert sich. "Was, wenn Seine Hoheit nicht mehr auffindbar ist?", sagt er so abrupt, dass seine Worte die Wunde in meinem Inneren erneut aufreißen.

Er hat nicht das gesagt, was in meinen Gedanken herumgeschwirrt ist und dennoch hat er nichts anderes als das gesagt.

Was, wenn Santiago bereits tot ist?

Keuchend schnappe ich nach Luft, schüttle dann jedoch den Kopf. Nein. Nein, ich hätte es doch gespürt, wenn er nicht mehr lebt. So etwas spürt man doch mit Sicherheit, oder? Oder?

"Dann...", setze ich an und schlucke. "Gnade uns Gott"

In diesem Augenblick bremst der Zug abrupt ab und ich klammere mich an der Wand fest, als ein Ruck durch den Waggon geht und ich durch das Fenster die unscheinbare Haltestelle an den Militärstützpunkten erkennen kann.

Erleichtert atme ich aus. Eine Hürde ist geschafft.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt