Kapitel 39

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Wir sprechen kein einziges Wort mehr.
Nachdem die Menschenmenge außer sich aufeinander los gegangen ist wurde die TV-Übertragung schlagartig abgebrochen und die zwei Wachen, die uns zuvor noch an die Grenze gebracht haben, haben dafür gesorgt, dass man uns so schnell wie möglich zurück zum Zug und nach Carazita zum Palast bringt.
Wortlos habe ich mich in das Zugabteil begeben und auf meinen Platz gesetzt, doch von Santiago hat jede Spur gefehlt. Und ich kann es ihm nicht einmal übelnehmen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ist der Zug angehalten und Francisco hat mich vom Bahngleis abgeholt und zu meinem Wagen gebracht. Ohne Santiago.
Und auch er hat die gesamte Autofahrt bis zum Palast kein Wort verloren, außer: „Willkommen, Eure Majestät“.
Und nun sitze ich ihm gegenüber im Auto, während meine Hände so stark zittern, wie noch nie. Wie kann sich mein Herz so leer anfühlen, während es gleichzeitig so sehr wehtut? Immer wieder wandern meine Gedanken zu Santiago, der mich in Moment so sehr zu hassen scheint, wie kein anderer Mensch.
Ich schlucke. Nein, womöglich stimmt nicht einmal das. König Mateo hasst mich in dieser Sekunde noch viel, viel mehr. Doch jeder noch so große Hass ist nicht so schrecklich wie das Wissen, dass Santiago mehr als verletzt ist.
Eine kalte Träne löst sich aus meinem Auge und läuft stumm meine Wange hinunter. Wäre Santiago neben mir, hätte er die Hand ausgestreckt und sie mir fortgestrichen.
Doch er ist nicht hier.
„Eure Majestät“
Ich habe gar nicht gemerkt, dass der Wagen zum Stehen gekommen ist, doch jetzt greife ich zitternd nach Franciscos Hand und lasse mir aus dem Auto helfen. Doch anstatt sie loszulassen, umklammere ich sie noch fester und blicke ihn flehend an.              Er sieht mich mit einem solchen Mitleid an, ehe er nickt und mich zum Palast führt. Er weiß ganz genau, was bei der Konferenz geschehen ist. Wenn es nicht sogar schon ganz Carazita weiß.
Bereits von Weitem vernehme ich die Schreie, die aus dem Palast dringen und ich zucke erschrocken zusammen, als die Tür zum Thronsaal aufgerissen wird und drei Dienstmädchen angsterfüllt über die Eingangshalle in Richtung Küche stürmen.
Schlagartig löse ich mich von Francisco und atme tief durch.
„Eure Majestät –“, setzt er an und ich nicke. „Ich weiß Bescheid, Francisco. Ich danke Ihnen vielmals.“ Ich streiche mein Kleid glatt und blicke auf die geöffneten Flügeltüren von denen aus laute Stimmen dringen. „... doch das muss ich nun alleine erklären.“
„Das Ende! Das ist das Ende unseres Königreiches!“
„Das Volk ist gebrochen, Eure Majestät! Wir müssen dafür sorgen, dass das Vertrauen wiederhergestellt wird!“
„Und wie gedenkt Ihr das zu tun?“, erklingen die Schreie von König Mateo. „Dieses Mädchen hat gerade zugegeben, dass die Heirat unter Zwang stattgefunden hat! Das ist genau das, was wir verhindern wollten, damit genau das nicht passiert, was nun der Fall ist!“
„Die einzige Möglichkeit, einen Aufstand und damit einen Krieg zu verhindern ist, indem wir ihr den Königstitel entziehen“
Abrupt halte ich inne und blicke auf die Gruppe Männer, die um den Kamin versammelt stehen und sich aufgewühlt ansehen.
„Ist etwas Dergleichen denn schon einmal durchgeführt worden?“
„Das ist es“, erwidert König Mateo und hebt den Kopf. Seine kalten Augen scheinen mich regelrecht zu durchbohren. „Wenn es nicht durch den Tod möglich ist, dann durch Hochverrat. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist es genau das, was geschehen ist!“
Ich schüttle den Kopf und trete König Mateo gegenüber. Hatte ich eben noch schreckliche Angst, ist sie nun schlagartig verflogen. „Wenn ich mich recht erinnere, ward Ihr es, der meinen Eltern dieses Angebot gemacht hat“, bemerke ich kalt, während ich von ihm zu den Männern sehe. Vermutlich handelt es sich dabei um seine Berater. „Ich würde zu gerne sehen, wie zwei Herrschern der Königstitel entzogen wird.“ Ich mache eine Pause. „Zumal Ihr kein König mehr seid, Mateo.“
Die Berater schnappen beinahe gleichzeitig nach Luft, ehe König Mateo ihnen mörderische Blicke zuwirft und sie daraufhin sofort den Saal verlassen.
Ich spüre die Spannung zwischen uns, wie elektrische Schwingungen, während seine Augen mich anstarren. Mich würde es keineswegs überraschen, wenn er im nächsten Moment einen Dolch zückt und auf mich losgeht. Doch ich sehe es gar nicht erst ein, mich ihm zu unterwerfen. Ich befinde mich auf derselben Ebene wir er. Er soll mir denselben Respekt erweisen, wie auch ich es anfangs getan habe.
„Genauso respektlos, wie dein Vater“, zischt er und umkreist mich mit langsamen Schritten. „Er hat das alles sehr gut geplant, das muss ich zugeben.“
„Lasst meinen Vater aus dem Spiel! Er hat mit alledem rein gar nichts zu tun!“
„Erst die finanzielle Unterstützung, dann die Titelerhebung zur Königin, daraufhin der Anschlag auf meinen geliebten Sohn“, zählt er auf. „Und nun dieser Verrat! Erinnerst du dich nicht an das Gespräch, das wir vor einiger Zeit genau hier geführt haben? An meine Bitte an dich?“
Als wäre es gestern gewesen. Genau hier hat er mich bedroht, so schnell wie möglich für einen Thronfolger zu sorgen, während er Wochen später verlangt hat, meine Liebe zu Santiago an die Öffentlichkeit zu bringen.
Bitte? Was für eine Bitte? Ihr habt mir gedroht! Von Anfang an habt Ihr Euren Respekt mir und meiner Familie gegenüber lediglich vorgespielt!“ Meine Stimme bebt und ich funkle König Mateo an. „Ich habe Euch bereits gesagt, dass ich Santiago niemals verletzen könnte! Mit dem Anschlag habe ich nichts zu tun! Señor Gomez –“
Ihn niemals verletzen?“, wiederholt er scharf und lacht bitter auf. „Tatsächlich? Und darf ich fragen, was du innerhalb der letzten Stunde getan hast? Du hast meinem Sohn das Herz gebrochen!“ 
Schlagartig halte ich inne. Auch wenn alles in mir dagegen anschreit. Doch ich kann nicht anders.
Er hat recht. Ich habe Santiago verletzt. Ich habe ihm viel, viel schlimmere Verletzungen angetan, als es äußere Wunden jemals tun können. Ich habe sein Herz gebrochen.
Mein Atem stockt und ich fasse mir vor Übelkeit und Angst an die Brust. Ich bekomme keine Luft mehr.
„Doch das ist noch nicht einmal das Schlimmste“
Abrupt drehen Mateo und ich und zu Königin Virginia um. Voller Trauer und Besorgnis blickt sie mich an, während sie einen Umschlag in der Hand hält.
„Virginia, was ist passiert?“ Doch ehe König Mateo auf sie zustürmen kann, hebt sie die Hand und sieht mir in die Augen. „Die ganze Zeit über habe ich gedacht, du wärst Diejenige, die es schafft, zu Santiago durchzudringen“, sagt sie leise. „Ich dachte, du wärst Diejenige, die ihn noch viel mehr liebt als seine Familie.“ Sie senkt den Kopf und schüttelt den Kopf. „Ich hätte niemals gedacht, mich so sehr in dir zu täuschen, Lucía. Niemals.“
Und dann sehe ich das, auf das sie die ganze Zeit über gestarrt hat.
Ich sehe die Bilder, auf denen ein Paar zu sehen ist, in einer engen Umarmung.
Es küsst sich.
An einem Felsvorsprung.
In Avenia.
„Nein“, stoße ich hervor und halte mir die Hand vor den Mund. „Nein, nein, das ist nicht wahr, bitte, lasst mich das erklären! Ich würde Santiago niemals –“
„Verletzen?“, höre ich seine Stimme und ich drehe mich zu ihm um.
Zu meinem Ehemann.
Meine Sicht ist vor Tränen verschwommen und dennoch genügt es, um sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht zu erkennen.
„Du hast mich bereits verletzt, als du mit Pablo gegangen bist, anstatt mit mir“, sagt er tonlos, während er auf mich zugeht. „Doch ich habe dir vertraut. Ich habe dir das Vertrauen geschenkt, um das du mich gebeten hast.“ Seine Blicke wandern zu den Bildern. „Aber ich hätte niemals in meinem ganzen Leben gedacht, dass deine Gefühle, deine Worte all die Zeit nur vorgespielt waren.“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, Santiago, bitte hör mir zu! Ich habe niemals –“
Doch er hebt die Hand, ehe ich meinen Satz vollenden kann. „Ich bitte dich, Lucía. Mach es mir nicht noch schwerer.“ Er hebt seine andere Hand und erst jetzt erkenne ich, was er die ganze Zeit über mit dieser fest umklammert hat.
Die Krone.
Ich schüttle den Kopf. „Tu mir das nicht an, Santiago. Du kennst mich besser als das, was du dort siehst.“
„Das dachte ich auch“, erwidert er und legt seiner Mutter die Krone in die Hand. „Doch anscheinend haben wir uns beide getäuscht.“ Er sieht seine Eltern entschuldigend an. „Ich werde zurück nach El Salvador gehen. Das Land ist immer noch zum Großteil zerstört und bereits vor Wochen wurden mir weitere Aufstände und Angriffe gemeldet.“ Seine Blicke wandern zu mir. „Dort braucht man mich dringender als hier.“
Königin Virginia entfährt ein Schluchzen und ehe er sich umdreht und den Saal verlässt, drückt er seine Mutter fest an sich.
„Es tut mir so leid“

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt