Schüsse.
Ich höre sie überall. Sie hallen an den hohen Wänden wider, fahren mir schmerzhaft durch meinen Körper und lassen die gellenden Schreie entstehen, die durch die Korridore tönen und meinen Körper zum Beben bringen.
„Nicht meine Tochter! Verschont meine Tochter!“
Schlagartig bleibt mein Herz für wenige Sekunden stehen. Doch es sind genügend Sekunden, damit ich den Träger des Schreies ausmachen kann, der auf den nächsten Schuss folgt.
Mamá.
„Nein!“
Ich besitze keinerlei Kontrolle mehr über meinen Körper, stattdessen bewegen sich meine Beine ganz automatisch die Treppen hinunter vor den Thronsaal und stoßen die Türen auf…
Entsetzt halte ich inne und starre auf das Schreckensszenario, das sich vor meinen Augen gerade abspielt.
Ich kann gerade noch in die, vor Furcht verdunkelten, Augen meines Vaters blicken, ehe der letzte Schuss fällt und das Gesicht meines Vaters grotesk erstarren lässt.
„Lucía…“ Es ist ein Keuchen, das ihm zuletzt entweicht, ehe er auf dem Boden zusammenbricht und in einer Lache aus schwarzem Blut liegen bleibt.
Papá...
Ein Schluchzen durchfährt meinen Körper und zerbricht mich mit der Stärke einer gigantischen Welle. Meine Eltern… sie blicken mich aus erstarrten Augen an, während mein Umfeld vor mir zu verschwimmen droht und ich lediglich aus dem Augenwinkel den dunklen Schatten erkenne, der sich auf mich stürzt.
Ein weiterer Schuss…
„Nein!“ Schreiend schrecke ich aus dem Schlaf hoch und winde mich hin und her, ehe ich erkenne, dass es die Decke ist, die um mich gehüllt ist und nicht der Griff eines Mörders.
Keuchend blicke ich in die Dunkelheit meines Schlafzimmers und versuche meinen unkontrolliert zitternden Körper zu beruhigen.
„Nur ein Traum“, wispere ich und hole tief Luft. Dennoch nimmt der Schmerz, den ich in meiner Brust verspüre, von Sekunde zu Sekunde zu. Meine Eltern… was, wenn ihnen etwas passiert? Hier in Carazita habe ich nicht den leisesten Schimmer, was in meiner Heimat geschieht.
Tränen strömen mir über die Wangen. Es könnte alles Mögliche passieren, ohne, dass ich davon etwas mitbekomme…
Abrupt steige ich aus meinem Bett und öffne die Terrassentür. Kühle Nachtluft weht mir ins Gesicht und lässt mich allmählich zur Ruhe kommen. Fröstelnd ziehe ich mir meine Decke über die Schultern und betrachte den dunklen, bewölkten Himmel. Von dem gleichmäßigen Rauschen des Windes beruhigt, schließe ich langsam die Augen und wäre beinahe wieder eingeschlafen, hätte mich nicht ein panischer Schrei zusammenzucken lassen. Und auch, wenn man diesen Schrei kaum seinem Träger zuordnen kann, weiß ich sofort, wem er gehört.
Mit schnellen Schritten, will ich zu meiner Schlafzimmertür eilen, halte dann jedoch mitten in der Bewegung inne. Mein Blick fällt auf den schmalen, kaum erkennbaren Spalt, der sich rechts von dem Tisch befindet, auf dem die hochwertige, getöpferte Blumenvase steht.
„Meine Eltern hielten es für eine angemessene Idee, unsere Schlafzimmer mit einem geheimen Treppenhaus zu verbinden“, kommen mir Santiagos Worte zurück ins Gedächtnis und ohne weiter darüber nachzudenken, drücke ich mich gegen die Wand und öffne somit eine Tür, die in die Wand eingelassen wurde. Wie er gesagt hat, befindet sich dahinter ein spärlich beleuchtetes Treppenhaus, das in schwarzer Dunkelheit endet.
Mit leisen Schritten steige ich die Stufen hinauf, bis ich an einer verschlossenen Tür angekommen bin. Mein Herz pocht mir bis zum Hals und vorsichtig drücke ich mich gegen die Tür, sodass sie sich mit einem leichten Ruck öffnet.
Das Zimmer, in dem ich mich nun befinde ist mit Sicherheit doppelt so groß, wie meines und besitzt mehrere Flügeltüren, die in andere Räume – eines davon vermutlich sein Arbeitszimmer – münden.
Ich kenne dieses Zimmer. In jenem Zimmer habe ich Santiago nach dem Anschlag an den Grenzen aufgefunden. Doch da war ich mehr auf ihn als auf alles andere fokussiert.
Ein leises Murmeln ertönt rechts von mir und im selben Augenblick fahre ich zusammen. Mein Herz bleibt einen Moment lang stehen. Sofort stürze ich auf das Bett zu, das die Mitte des Zimmers ausmacht und blicke mit, vor Entsetzen, geweiteten Augen auf Santiago hinunter, der sich unruhig im Schlaf hin und her dreht und völlig zusammenhanglose Worte vor sich her murmelt. Sein Atem geht unnatürlich schnell und sein Gesicht ist schmerzverzerrt, als er auf einmal einen kehligen Schrei ausstößt und wild um sich schlägt, als würde er angegriffen werden.
Schnell bin ich bei ihm und versuche seine Handgelenke zu fassen zu bekommen, doch er ist zu schnell für mich.
„Schsch“, mache ich leise, beuge mich über ihn und lege meine Hand sachte an seine Wange. Er glüht regelrecht, als hätte er Fieber.
„Nicht… Verschont sie…“, murmelt er im Schlaf und schlagartig halten seine Hände inne. Sein Körper zittert und sein Gesicht verzieht sich voller Schmerz. „Nicht…“
Ich spüre einzelne Tränen seine Wange hinunterlaufen und auch, wenn er mir mit seinen Worten über eine andere Frau Schmerzen verursacht, ist der Schmerz, ihn so zu sehen noch viel, viel schlimmer.
„Santiago“, flüstere ich und streiche ihm die verschwitzten Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Du musst aufwachen, das ist nur ein Traum!“
Er stößt ein Keuchen aus und schnappt wie ein Ertrinkender nach Luft, als er plötzlich seine Augen aufreißt und mich völlig entgeistert ansieht.
„Lucía“, bringt er hervor, doch ich schüttle den Kopf und drücke ihn behutsam zurück in das Kissen.
„Es ist alles in Ordnung“, beruhige ich ihn und fahre ihm sanft durch sein zerzaustes Haar. „Du hast geträumt. Nichts ist passiert.“ Ich spüre das viel zu schnelle Klopfen seines Herzens gegen seine Brust und greife nach seiner zitternden Hand.
„Beruhige dich“
Und das tut er. Wenn auch mit Mühe, doch nach einer Weile reguliert sich sein Puls wieder und auch sein Atem wird ruhiger.
Er blickt mich mit seinen blauen Augen an, als wäre ich ein Geist. „Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest“, sagt er entschuldigend.
„Du musst dich für nichts dergleichen entschuldigen“, mache ich ihm deutlich und bringe ein schmales Lächeln zustande. „Hauptsache, dir geht es gut.“ Völlig unbeweglich blicke ich auf ihn herab, während meine Finger immer noch beruhigend über sein Haar streichen. „Du hast mir einen solchen Schrecken eingejagt…“
Santiago seufzt leise und ergreift meine Hand. „Das wollte ich nicht“, flüstert er. Plötzlich sind seine Augen angstgeweitet.
„Was ist?“, frage ich sofort und halte in meiner Bewegung inne.
Doch entgegen meiner Erwartungen hebt er langsam die Hand und streicht mir gefühlvoll über meine Wange. „Wieso behandelst du mich immer, wie einen Kranken?“, will er wissen und lächelt ein wenig.
„Weil du krank bist“, antworte ich ernst. „Du hast diese Albträume schon seit Jahren, nicht wahr? Wieso hast du mir nie davon erzählt?“
Santiagos Hand an meinem Gesicht hält kurz inne und fährt dann sachte weiter hinunter, bis zu meinem Haar. „Was hätte ich dir denn erzählen sollen?“ Gedankenverloren spielen seine Finger mit meinem Haar. „Alles, was ich dir erzählt hätte, wäre eine Belastung für dich gewesen… Das wollte ich dir nicht auch noch antun.“
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Ich bin deine Frau, Santiago“, belehre ich ihn. „Du kannst mit mir über alles sprechen.“
Erst jetzt bemerke ich, wie nahe ich ihm auf einmal bin. Ich spüre die Wärme, die von ihm ausgeht und das Kribbeln, das seine Berührungen in mir auslösen.
„Das weiß ich“, antwortet er und betrachtet mich mit warmen Augen.
Ich lächle und ehe ich es mir anders überlege – oder gerade, weil ich Angst habe, es mir irgendwann anders überlegen zu wollen – schließe ich auch noch die letzte Lücke zwischen uns und küsse ihn sanft auf den Mund.
Diesmal küsse ich ihn nicht, weil ich erkenne, dass es ohne Zweifel dazu kommen wird, sondern weil ich das Bedürfnis danach habe. Ich habe das Bedürfnis, meine Finger in seinem Haar zu vergraben, habe das Bedürfnis, seinen Geruch in mich aufzunehmen und sein wild klopfendes Herz an mir zu spüren.
Sein Mund bewegt sich sanft auf meinem, so sanft, dass ein Schauer meinen Körper durchfährt und ich ihn noch näher an mich ziehe.
Mit einer schnellen Bewegung dreht sich Santiago gemeinsam mit mir, sodass ich im selben Moment unter ihm liege und ihm augenblicklich so nahe bin, dass ich zum ersten Mal die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen Augen erkennen kann, die Sternen gleichen, die sich auf der Meeresoberfläche spiegeln.
Wieso ist mir die ganze Zeit über nie aufgefallen, wie schön er ist?, kommt es mir, ehe ich mit meinen Händen sein Gesicht umfasse und es erneut an meines ziehe.
Santiago erwidert meinen Kuss mit derselben Zaghaftigkeit, mit der er mir die letzten Wochen immer wieder gegenübergetreten ist, doch so sehr ich diese Seite von ihm liebe, mit der er mich von innen langsam zum Schmelzen bringt – der Stimme in meinem Inneren genügt es aus irgendeinem Grund nicht.
Ein plötzliches Verlangen überkommt mich, etwas, das ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt habe und etwas, wofür ich mich sonst eigentlich geschämt hätte. Doch ich fühle mich in seinen Armen so sicher, wie schon lange nicht mehr und ich drücke mich noch näher an ihn, während Santiago den Kuss mit einer solchen Heftigkeit erwidert, dass ein leises Keuchen meinem Mund entweicht.
„Lucía“, bringt er hervor und vergräbt seine Hand in meinem Haar.
Eine völlig ungewöhnliche, jedoch angenehme Wärme breitet sich in meiner Brust aus und in diesem Moment wünsche ich mir, dass dieser Augenblick niemals vorübergeht. Ich wünsche mir, in diesem Augenblick versinken und alles andere vergessen zu können.
Doch ehe mir das gelingt, löst sich Santiago schwer atmend von mir und blickt mich mit feurigen Augen an. „Wieso bist du hier?“, fragt er plötzlich.
Zunächst weiß ich nicht genau, was er damit meint, verstehe dann jedoch. „Ich konnte nicht mehr schlafen“, antworte ich und versuche die düsteren Erinnerungen an meinen Albtraum aus meinem Gedächtnis zu verschließen.
„Möchtest du mir den Grund verraten?“ Mit langsamen Bewegungen streicht er mir über meine Wange.
Ich hole tief Luft. Kann ich ihm meine Sorgen beichten? Nein… ich habe eine Abmachung mit seinem Vater und so sehr mich mein Teil dieser Abmachung momentan auch schmerzt, so wichtig ist es dennoch, dass ich mich daran halte.
Zum Wohle meiner Familie.
„Du träumst von dem Bürgerkrieg, nicht wahr?“
Schlagartig erstarrt Santiago und sieht zu mir hinunter. Keine Sekunde später hat er sich aufgesetzt und sieht an mir vorbei aus dem Fenster.
„Dieses Thema ist nicht für dich bestimmt“, erwidert er karg.
„Das ist nicht wahr, Santiago. Und das weißt du.“ Sanft umfasse ich seinen Arm und zwinge ihn dazu, mich anzusehen. „Wir sind füreinander da, hast du das vergessen? Wir werden uns in Liebe und ewiger Treue begleiten und mit unserem Leben beschützen.“
„Bis, dass der Tod dieses Bündnis zerbricht“, vervollständigt Santiago die Worte des Priesters und lächelt schief. „Wie schaffst du es immer wieder, meine Gedanken lesen zu können, Lucía Elena de Garcia?“
„Also stimmt es?“, frage ich leise. „Die Erinnerungen an den Bürgerkrieg sorgen für deine Albträume?“
Er zögert kurz, nickt dann aber. „Jede Nacht träume ich davon“, gesteht er. „Ich stehe in San Salvador, inmitten von Ruinen. Du musst wissen –“ Er hält kurz inne und sieht mich schuldbewusst an. „Ich… ich habe dort ein junges Mädchen kennengelernt. Ihr Name war Cecilia…“ Er seufzte und hebt den Kopf ein wenig, sodass sich unsere Augen treffen.
Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, ich kann dir das nicht –“
„Du musst dich wegen nichts rechtfertigen, Santiago“, versichere ich ihm, obwohl mir der Name einer anderen Frau aus seinem Mund schrecklich wehtut. Ich greife nach seiner Hand. „Damals war damals. Aber wir leben jetzt.“
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Roman d'amour„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...