Kapitel 33

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Ich habe die Stallungen sehr vermisst. Der Duft nach frischem Heu und Gras, die angenehme Wärme, die einen weich umhüllt, wenn man eintritt und das Wiehern der Pferde, wenn man an ihnen vorbeigeht und in langsamen, streichenden Bewegungen über ihr Fell streicht.
„Hallo Negro“, flüstere ich leise, als ich meinen Hengst am Ende der Stallungen entdecke und ihm sanft über die Stirn streiche.
Freundlich stubst er mich mit dem Kopf an und blickt mich mit tiefen, dunklen Augen an, als wolle er wissen, was los ist.
Unwillkürlich muss ich lächeln und will im selben Moment nach dem Sattel und Zaumzeug greifen, ehe ich es mir anders überlege.
„Was hältst du von einem Ritt ohne Sattel?“, sage ich und öffne die Stalltüre. „Ich glaube, ein bisschen Freiheit tut uns beiden heute gut.“
„Eine ausgezeichnete Idee“
Abrupt – und aus irgendeinem Grund erschrocken – drehe ich mich um und sehe zu Pablo, der langsam auf mich zugeht.
„Was war das eben?“, will ich wissen, während ich beiläufig durch das Fell meines Pferdes streiche.
„Ich habe lediglich deine Frage beantwortet“, erwidert er unschuldig.
„Tu nicht so, als wäre die letzten Minuten nichts passiert!“, rufe ich und zucke im selben Augenblick zusammen, erschrocken von meiner eigenen Stimme.
Pablo starrt mich ungläubig an. „Was ist los mit dir, Lucía?“, fragt er leise und geht vorsichtig auf mich zu. „Ich kenne dich so gar nicht.“
Ich schüttle den Kopf, will ihm ausweichen, doch ehe es dazu kommt, drängt sich Negro zwischen uns und schnaubt leise.
Oh, Dios mio, ich danke dir!
„Negro braucht Bewegung“, sage ich schnell und schnalze mit der Zunge, sodass Negro den Körper leicht senkt, damit ich problemlos aufsitzen kann. „Los, galope!“
Und noch ehe Pablo etwas erwidern kann, haben wir die Stallungen bereits hinter uns gelassen und galoppieren den Feldweg hinauf, der an unserem Schloss vorbei und weiter in die Berge führt. Ich weiß ganz genau wo ich hin will. Und mein Rappe scheint es auch zu wissen.
Unwillkürlich schließe ich die Augen und lasse mich für einen Moment in dem unbeschreiblichen Gefühl von Freiheit fallen. Ich spüre den Wind, der mir ins Gesicht und durch die Haare weht und atme den Duft von Zuhause ein. Könnte ich mich in diesem Augenblick entscheiden, würde ich für immer hierbleiben. Doch ich weiß, dass das nicht möglich ist. Schon gar nicht, nachdem Santiago nun so wütend und verletzt ist.
Ich öffne die Augen wieder und spüre, wie mir der kalte Wind die Tränen fortweht, die meine Wangen hinunterlaufen. Wie sehr ich all das vermisst habe. Die immergrünen Tannenwälder, die sich entlang der Wiesen ihren Weg schlängeln und mich daran erinnern, dass bereits in wenigen Wochen Weihnachten ist. Das Fest, das meiner Familie – ausgenommen die Zeremonie der Zwangsheirat – am wichtigsten ist.
Augenblicklich zerspringt ein Stück meines Herzens in tausend Scherben. Denn der Gedanke, nicht zu wissen, ob ich dieses Fest zusammen mit meiner Familie feiern werden kann, macht mich unendlich traurig.
Schlagartig bleibt Negro stehen und ich erkenne, dass wir unser Ziel erreicht haben.
Ich sitze ab und während sich mein Rappe dem klaren Flusswasser widmet, gehe ich weiter, bis ich am äußersten Rand der Bergkante angekommen bin.
Schon seit ich denken kann ist dieser Ort mein Lieblingsplatz im gesamten Königreich gewesen. Von hier aus habe ich die Möglichkeit, das gesamte Land zu überblicken, während der anfangs ruhige Fluss neben mir immer stärker und rasender wird, ehe er in einem strömenden Wasserfall den Bergabhang hinabfließt und ins Tal mündet.
Wie von selbst geben meine Beine nach und ich lasse mich ins kühle Gras fallen.
Meine Gedanken sind bei Santiago. Was er wohl gerade macht? Denkt er womöglich an mich?
Wieso sollte er?, erinnere ich mich. Er hat gesehen, wie jemand anderes dich geküsst hat. Wie würdest du dich fühlen?
Leise stöhnend lege ich den Kopf in meine Hände und verfluche Pablo innerlich für das, was er getan hat. Doch wieso hat er es getan? All die Jahre, die wir uns kennen, hat er sich niemals so verhalten! Was hat sich in den Monaten verändert, sodass sein Verhalten gerechtfertigt werden kann?
„Nichts“, flüstere ich und streiche mir eine Träne von der Wange. Mein Herz bricht. Es bricht, weil sich Santiago genauso fühlen muss. Genauso verletzt, genauso verraten.
Unwillkürlich muss ich an seine Worte von gestern Abend zurückdenken. Seine wundervollen Worte, die mir auch noch jetzt eine Gänsehaut bereiten. Und mein Herz zeitgleich in noch mehr Scherben zerspringen lassen.
„Und ich würde es immer wieder tun“, hat er gesagt. „Ich würde dir immer wieder beweisen, wie sehr ich dich liebe. Egal, welche Risiken es für mich trägt.“
„Und ich habe dich so sehr verraten“, wispere ich und zupfe an einem Grashalm neben mir. Es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid. Du hast so jemanden wie mich nicht verdient. Niemals.
Plötzlich vernehme ich Schritte hinter mir und ich spüre den Drang, mich umzudrehen und Santiago hinter mir zu erblicken. Doch ich werde enttäuscht.
„Du zitterst ja“, bemerkt Pablo und legt mir eine Wolldecke über die Schultern.
Aber nicht vor Kälte, wie du denkst.
„Danke“, sage ich trotzdem und blicke weiter hinunter ins Tal.
Pablo setzt sich neben mich und folgt meinen Blicken. „Weißt du noch, als wir das erste Mal hierhergekommen sind?“
Auch wenn ich es eigentlich nicht will, muss ich lächeln. „Wie könnte ich das vergessen?“
Das ist das erste Mal gewesen, als ich mich bei einem unserer Ausritte durch das Königreich verlaufen habe. Stundenlang bin ich durch den Wald gelaufen, mit Negro an meiner Seite, der damals noch etwas kleiner gewesen ist, bis ich diese Stelle gefunden, mich ins Gras gesetzt und so lange gewartet habe, bis Pablo zusammen mit meinem Vater aufgetaucht ist.
„Es tut mir leid“, sagt er plötzlich.
Überrascht drehe ich den Kopf zu ihm. „Sag bloß, du hast dich wieder erinnert, was geschehen ist?“, frage ich und bemühe mich kein bisschen, den Sarkasmus in meiner Stimme zu reduzieren.
„Du verstehst das nicht, Lucía“, meint er und seufzt. „Als ich dich gestern gesehen habe, zusammen mit ihm… Du hast so glücklich gewirkt. Als ob du all das, was hier gewesen ist, hinter dir gelassen hast.“
Erschrocken halte ich die Luft an. „Das kannst du doch nicht wirklich glauben, Pablo!“
„Ach, nein?“ Er dreht sich zu mir um und sieht mir in die Augen. „Also war das alles nur gespielt? Deine Blicke, wenn ihr euch anseht, deine Stimme, wenn du seinen Namen aussprichst –“
„Pablo, wenn man dich so hört, könnte man fast glauben – “
„Ja, verdammt, ich bin eifersüchtig!“, schreit er und hält im selben Moment inne, nur um zwei Sekunden später aufzuspringen und zu gehen.
„Pablo!“ Ich werfe die Decke von mir und laufe ihm hinterher. „Bleib stehen!“
„Wozu?“, will er wissen und dreht sich um. Sein Gesicht ist schmerzvoll verzerrt. „Damit du mir sagen kannst, dass das albern ist? Damit du mich fragst, wieso ich dir das jetzt sage?“ Er fährt sich durch die Haare. „Ich weiß es nicht… Ich denke, es ist einfach zu viel gewesen. Dich in seinen Armen zu sehen…“
Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Aber… wir sind doch Freunde gewesen“
„Das glaubst du“, bemerkt er und lacht trostlos. „Ich habe all die Jahre nachgedacht, wie ich es dir am besten sagen könnte. Doch ich wusste nie, wie. Und dann kam die Heirat und ich habe mitbekommen, wie dein Vater in die Bibliothek gekommen ist und mit Enrico über eine Hochzeit gesprochen hat.“
Kurzatmig schnappe ich nach Luft und starre Pablo fassungslos an. „Ich hatte keine Ahnung“, flüstere ich. „Das tut mir so leid.“
„Das braucht dir nicht leid zu tun“, erwidert er, während er mir immer noch den Rücken zugedreht hat und in die weite Ferne sieht. „Es spielt nun keine Rolle mehr“, sagt er im selben Moment und dreht sich langsam um. Scheinbar gleichgültig zuckt er mit den Schultern. „Du bist nun verheiratet, Lucía.“
„Du hörst dich beinahe so an, als würdest du mir einen Vorwurf machen“, bemerke ich.
„Nein“, sagt er und blickt mir tief in die Augen. „Das würde ich niemals. Ich weiß, dass diese Hochzeit gegen deinen Willen vollzogen wurde.“ Langsam, als würde er zögern, geht er einen Schritt auf mich zu und hebt vorsichtig eine Hand. „Ich habe es dir angesehen, als du vor dem Altar standst.“
Abrupt zucke ich zusammen. „Was? Aber wie konntest du…?“
Schuldbewusst verzieht er das Gesicht. „Den Gefallen konnte ich deinen Eltern nicht abschlagen“, erklärt er. „Doch genauso wenig konnte ich dich an diesem Tag aufsuchen.“ Vorsichtig, wie bei einem scheuen Tier, streicht er mir eine Locke aus dem Gesicht.
Ein Gefühl, das ich nicht ganz zuordnen kann, entsteht auf meiner Haut und ich schlucke bei dem Gedanken an meinen Hochzeitstag. Ich erinnere mich daran, wie schrecklich einsam ich mich gefühlt habe. Wie eine Fremde, beinahe einer Aussätzigen gleich.
Aus welchem Grund konnte er mich nicht aufsuchen?, stellt sich mir die Frage und ich spüre, wie ein leichter Stich mein Herz brennen lässt. Beinahe habe ich das Gefühl, meinen besten Freund niemals gekannt zu haben. Die Zeit hat uns verändert. Nicht nur mich, auch ihn.
„Ich muss mich entschuldigen, Lucía“, sagt Pablo auf einmal und lässt seine Hand langsam sinken. „Dafür, dass ich nie den Mut gefunden habe, offen und ehrlich zu dir zu sein. Und dafür, dass ich dir all das erst jetzt sage, wo du dich in einen anderen Mann verliebt hast.“
Schlagartig schrecke ich von ihm zurück und sehe ihn mit weit geöffneten Augen an. Auf einmal habe ich das Gefühl, der Boden würde unter mir nachgeben. „W-Wie kommst du darauf? Dass ich… dass ich Santiago…“
„Weil ich gesehen habe, wie du ihn ansiehst. Die ganze Zeit über.“, sagt er. „Ich weiß, wie man den Menschen ansieht, den man über alles liebt.“ Mit diesen Worten blickt er zu Boden.
Ich schüttle den Kopf. Mir wird schwindlig und ich spüre, wie etwas in meinem Inneren langsam zerbricht. „Sag das nicht“, bitte ich ihn.
„Ich kann nicht mehr lügen, Lucía!“ Abrupt dreht er sich um, hält dann jedoch schlagartig inne. Seine Blicke wandern wie in Trance von mir zu dem Felsvorsprung und wieder zurück. „Ich will dir diese Bürde nicht auferlegen, das musst du mir glauben! Doch genauso wenig schaffe ich es, dich weiterhin zu belügen.“
„Du hättest niemals lügen müssen! Du hättest mit mir reden können. Mit meinem Vater.“
Pablo lacht freudlos. „Und hätte dann was machen sollen? Ich bin ein einfacher Student, falls du das vergessen haben solltest. Ich besitze kein königliches Blut in mir. Ich hätte niemals eine Chance gehabt.“ Mit langsamen Schritten geht er auf mich zu und sieht mich mit den mir so bekannten dunklen Augen an. Es sind dieselben Augen, die mich damals gefunden haben, als ich stundenlang an genau dieser Stelle gewartet habe. Dieselben Augen, die mich während der Zeremonie an meinem Geburtstag begleitet haben. Augen, die so viele Emotionen und Erinnerungen auslösen und sich dennoch so sehr von Santiagos unterscheiden.
„Es tut mir leid, Lucía“, wiederholt er. „Nicht einmal ein Geschenk konnte ich dir damals zu deinem Geburtstag kaufen.“
„Nein!“, unterbreche ich ihn. „Du brauchst mir keine Geschenke machen, Pablo! Das möchte ich nicht.“
Kurz schließt er die Augen und holt tief Luft. „Dann lass mich dir etwas anderes geben“, fleht er. Seine Hände zittern, als er vorsichtig meine Hände in seine legt und seine Wärme mich umhüllt, wie bereits vor vielen Jahren.
Er wirkt aufgewühlt und ängstlich zugleich. Noch nie habe ich ihn so erlebt.
Mein Herzschlag wird schneller und schneller und ich hebe unentschlossen die Schultern. „Ich weiß nicht genau –“
„Das musst du auch nicht“, fällt er mir ins Wort, zieht mich an sich und presst seine Lippen auf meine.
Erschrocken schnappe ich nach Luft. Instinktiv will ich mich ihm entziehen, doch seine Hände fahren über meine Schultern und hinauf zu meinem Gesicht und halten es fest umgriffen. Zu fest.
Ich darf das nicht tun!, ruft eine Stimme in mir. Das ist Ehebruch. Eine Sünde!
Pablos Lippen fahren sanft über meinen Mund und während mir in Santiagos Umarmungen immer warm wird, spüre ich, wie mein Körper nach und nach zu Eis gefriert.
Santiago würde dich niemals betrügen…!
Mit aller Kraft reiße ich mich von ihm und stoße Pablo mit beiden Händen von mir, dass er taumelnd nach hinten fährt.
„Wieso?“ Es ist lediglich ein Wispern, das mir über die Lippen geht, während ich ihn fassungslos und verletzt zugleich ansehe. „Wieso hast du das getan?“
„Weil ich es tun musste“, erwidert er tonlos. „Nur ein einziges Mal in meinem Leben.“
Das Atmen fällt mir schwer und ich spüre, wie mir heiße Tränen in die Augen schießen, als ich mich von ihm wegdrehe, Negro zu mir rufe und aufsitze.
Ich habe den Wasserfall und den Felsvorsprung hinter mir gelassen noch bevor die Tränen über meine Wange laufen und mein Herz bei dem Gedanken zerbricht, Santiago hintergangen und betrogen zu haben.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt