Kapitel 38

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Ich umarme meine Mutter ein letztes Mal.
„Kommt uns bald wieder besuchen!“, bittet sie und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich werde dir schreiben, sobald wir in Carazita angekommen sind“, beruhige ich sie lächelnd. Aus dem Augenwinkel nehme ich den warnenden Blick meines Vaters wahr. „Viel Erfolg bei der Konferenz“, sagt er tonlos, doch mehr braucht er auch nicht zu sagen. Ich höre seine Warnung so deutlich, wie bei dem Gespräch in der Bibliothek.
Und so sehr es mir wehtut... Ich darf weder meine Familie, noch mein Land hintergehen.
„Danke“, erwidere ich, als ich in den Zug zu Santiago steige, der uns an die Grenze zu Carazita bringen wird.
Lautlos sehe ich ihn an, doch er hat die Blicke lediglich auf seine Unterlagen gerichtet, die ihm sein Vater bei der Abreise mitgegeben haben muss. Politische Dokumente, so wie ich es erkennen kann.
Ich habe ihm nicht von meinem Traum in jener Nacht erzählt. Natürlich hätte ich es tun können, doch ich habe beschlossen, dass es genügt, wenn einer von uns beiden Angst hat. Mit Sicherheit wird nach der Konferenz alles besser und ich brauche mir gar nicht im Voraus Sorgen zu machen.
„Worüber denkst du nach?“
Abrupt werde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Darüber, welche Fragen sie uns wohl stellen werden“, antworte ich und deute auf den Stapel Papier in seiner Hand. „Sie werden die Kriegserklärung ansprechen, nicht wahr?“
Santiago seufzt. „Ich wünschte, ich könnte dich beruhigen“, erwidert er und legt die Papiere zur Seite. „Aber da sowohl Vertreter Carazitas als auch Avenias vor Ort sein werden, kann ich mir schon denken, welches Thema Avenia aufgreifen wird.“
„Nimmst du es ihnen übel?“, kontere ich. „Einen Vertrag erstellen, der die Teilung meiner Heimat besagt und daraufhin eine Horde Soldaten an die Grenzen schicken und befehlen anzugreifen?“
„Du muss die Hintergründe verstehen, Lucía“, sagt Santiago und hält mir eines der Papiere hin. „Dieser Vertrag wurde damals von deinem Großvater unterzeichnet. Er besagt, dass wenn die Schuldenlast einen gewissen Schwellenwert erreicht, die Begleichung der Verbindlichkeiten Avenias in Form von Wirtschaftsland erfolgt.“
Fassungslos schüttle ich den Kopf. „Santiago, dieser Vertrag hätte erneuert werden müssen! Mein Vater hat ihn niemals genehmigt!“
„Das weiß ich“, versichert er mir. „Doch das müssen wir auch meinem Land versichern. Und genau deshalb werden wir dort sein.“ Er greift nach meiner Hand und lächelt schmal. „Aber das kann ich nur mit dir zusammen schaffen.“
Wütend und gerührt zugleich senke ich den Kopf. Er versteht das nicht. Er versucht all die Vorkommnisse so gut es geht zu vergessen. Doch ich kann den Anschlag auf ihn an der Grenze nicht vergessen. Und ich kann auch die Anschuldigung seines Vaters nicht vergessen.
Ich muss herausfinden, wer den Anschlag geplant hat, kommt es mir. Wer hat etwas gegen Santiago, dass derjenige versucht ihn umzubringen? Ich glaube Señor Emilio einfach nicht, dass es ein Versehen eines Anfängers gewesen sein soll. 
„Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst“, sage ich, als ich mich an seine letzten Worte erinnere. Ich bringe ein Lächeln zustande und drücke seine Hand. „Immer“

„Ich danke Ihnen für Ihr zahlreiches Erscheinen“ Santiago blickt von der Tribüne hinab, die extra für uns errichtet wurde. Vor uns erstreckt sich ein breites Meer von Journalisten, Radiosprechern und Bürgern. Sogar Mitglieder und Vertreter der Kabinette von Carazita und Avenia sind an die Grenze gereist.
Sergio Rivera, der TV-Moderator der Tagesnachrichten von Carazita steht uns gegenüber und bietet uns zwei Sessel an. „Ich muss mich bedanken, Eure Majestät. Ihr habt mit Sicherheit sehr viel zu tun.“
Santiago nickt und setzt sich neben mich. „So könnte man es ausdrücken, ja“
Rivera lächelt noch breiter, wenn das überhaupt möglich ist, und blickt zu mir. „Darf ich Eurer Majestät sagen, wie bezaubernd Ihr mal wieder ausseht?“
„Vielen Dank“, erwidere ich und setze ein Lächeln auf. „Aber heute geht es um unsere beiden Länder, nicht um mich.“
„Sehr weise Worte, Eure Majestät“, bemerkt er und sieht in seine Sprechkarten. „Wie bereits bis an die Grenzen gedrungen ist, ist das neueingeführte System zur Armutsbekämpfung in Carazita ein voller Erfolg?“
„Es ist mehr als das“, verbessert Santiago. Seine Blicke wandern zu mir, während ein Lächeln auf seinem Gesicht entsteht. „Mit der Unterstützung meiner wundervollen Frau haben wir es geschafft, in den letzten Wochen nicht nur die Armut um fünfzig Prozent zu beseitigen, sondern wir konnten durch den Bau von Bildungseinrichtungen zudem dafür sorgen, die Alphabetenrate auf fast neunundneunzig Prozent zu bringen.“
Ein Jubeln geht durch die Menge und Santiagos Worte werden mit tosendem Applaus erwidert.
„Was soll ich anderes sagen, als Euch zu diesem hochrangigen Erfolg zu beglückwünschen“ Rivera lächelt. „Wenn ich erlauben darf, das Publikum ebenfalls zu Wort kommen zu lassen?“
„Darum bitten wir“, antworte ich, während ich mich unbemerkt etwas aufrechter hinsetze und tief durchatme.
Eine junge Journalistin hebt die Hand. „Eure Majestät, habt Ihr vor, für immer in Carazita zu bleiben? Euer Volk ist sehr betrübt, Euch so selten zu Gesicht zu bekommen.“
Ich schlucke. „Das weiß ich. Und dafür muss ich meine Heimat um Verzeihung bitten. Die letzten Monate waren auch für mich sehr schwierig und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, mein Land nicht vermisst zu haben.“ Ich sehe zu Santiago. „Doch ich wusste und weiß immer noch, dass meine Eltern mehr als gut für Avenia sorgen. Und ich weiß auch, dass die Armut in Carazita mich dazu gebracht hat, das Hauptaugenmerk zunächst auf die Verbesserung dieser Zustände zu legen. Denn ich weiß, dass es meinem Volk gut geht.“ Ich hole Luft. „Denn etwas anderes würde meine Familie niemals zulassen.“
Lautes, freudiges Klatschen ertönt aus dem Publikum und ich spüre Santiagos Hand, die meine sanft drückt.
„Und dennoch hat Eure Familie zugelassen, dass die Grenze von der Armee Carazitas angegriffen wurde“, bemerkt die Journalistin trocken und die Jubelrufe verstummen schlagartig.
Angsterfüllt starre ich Antonio an. Genau diese Frage ist es gewesen, die mir Angst vor dieser Konferenz gemacht hat. Was soll ich meinem Land sagen, wenn ich die Wahrheit selbst nicht kenne? Wenn Santiago dafür gesorgt hat, diese Ereignisse nicht mehr hervordringen zu lassen, weil er weiß, wie sehr sie mich belasten?
„Lucías Familie hat nichts Dergleichen zugelassen“, verteidigt mich Santiago mit leicht erhobener Stimme und schlagartig geht ein Raunen durch die Menge. „Avenia ist zu keiner Zeit in Gefahr gewesen, das versichere ich Ihnen.“
„Die Armee hat für etwas anderes gesprochen“, bemerkt die junge Frau selbstsicher, ehe ich aufspringe und sie mit einer Mischung aus Wut und Angst anfunkle. „Es ist nicht meine Heimat, die angegriffen wurde!“
Erschrocken zucke ich zusammen, als ich die Worte vernehme, die mir aus dem Mund geströmt sind. Zu schnell. Viel zu schnell, als dass ich sie hätte kontrollieren können.
„Tatsächlich?“ Die Journalistin hebt eine Braue. „Wollt Ihr uns verraten, wem der Angriff galt?“
Ihre Worte hinterlassen meinen Körper in einer Schockstarre. Die Blicke meines Volkes sind auf mich gerichtet – meiner beiden Völker. Und sie beide wollen wissen, was geschehen ist.
Wissen sie überhaupt von dem Anschlag? Wissen sie, dass es wir sind, die angegriffen wurden? Zuerst bei der Krönung, dann an den Grenzen?, kommt es mir in diesem Augenblick, als ich auf einmal eine warme Hand auf meiner spüre.
„Diese Geschehnisse nehmen meine Frau sehr mit“, erklärt er ruhig, während er sanft über meine Hand streicht. „Ich bitte Sie, Rücksicht auf ihre Gesundheit zu nehmen.“
Schlagartig ist es so still um uns herum, dass man den Flügelschlag der Vögel über uns vernehmen kann.
Auch Rivera sieht uns neugierig und schockiert zugleich an. „Eure Majestät“, murmelt er und ein Lächeln entsteht auf seinem Gesicht. „Wollt Ihr uns etwa sagen –“
„Ganz recht“, erwidert Santiago und legt seine Hand schützend über meinen Bauch.
Ich halte die Luft an und blicke von ihm zu den Menschen und wieder zurück. Ich spüre die Wärme, die seine Hand auslöst und gleichzeitig die Panik, die sich in mir breitmacht.
„Mateo wird dir nichts antun, wenn er weiß… dass du das Kind von Santiago in dir trägst“
Hat dies anscheinend auch Santiago begriffen?
„Ich bitte um angenehmere Fragen, zum Wohle meiner Frau“
„Das sind erfreuliche und überaus überraschende Neuigkeiten... Aber nun gut“, erwidert Rivera nach einer kurzen Pause und blickt freudig ins Publikum. „Was könnte angenehmer sein, als über die Liebe zu sprechen?“ Erwartungsvoll wendet er sich Santiago und mir zu. „Darf ich fragen, was der Anlass für diese überraschende Hochzeit gewesen ist?“
„Es war sehr überraschend, das stimmt“, gibt Santiago ihm recht. „Aber Sie müssen mir mit Sicherheit zustimmen, wenn ich sage, dass man nicht anders kann, als sich auf den ersten Blick in Lucía Elena de Garcia zu verlieben.“ Er hebt den Kopf und sieht mir tief in die Augen.
Mein Herz setzt für einen Augenblick aus. Ob vor Freude oder vor Angst kann ich nicht genau sagen. Ist es nicht genau das, was König Mateo von mir verlangt und wovor mich Santiago gewarnt hat? Die Verliebte zu spielen, sodass die Zweifel in Carazita, unsere Liebe wäre eine Lüge, verschwinden?
Ich schlucke. Und tue ich gleichzeitig eigentlich nicht alles, um das auch zu ermöglichen? Bin ich zu einer Spielfigur von Carazita geworden? Habe die zweihundertjährige Tradition und den Glauben meiner Heimat verraten?
„Ich kann nicht anders, als euch recht zu geben, Majestät“, stimmt ihm Rivera zu, als ein Journalist die Hand hebt.
„Also ist es nicht die Tradition der Zwangsheirat in Avenia gewesen, die der Auslöser für die Hochzeit war?“
Schlagartig setzt mein Herz für wenige Augenblicke aus. Die Hand von Santiago, die bis eben noch sanft über meine gefahren ist, verkrampft sich plötzlich und angsterfüllt und zitternd blicke ich den Mann an, der diese Frage gestellt hat. Die Frage, auf die wir uns nicht vorbereitet haben. Die Frage, von der ich nicht weiß, wie ich sie beantworten kann und werde.
Santiago hat sich schnell wieder im Griff und ich spüre, wie er den Kopf schüttelt. „Es war Liebe, die uns zusammengebracht hat“, erklärt er, jedoch kann ich die Unsicherheit in seiner Stimme hören.
„Soll das bedeuten, dass Ihr die Tradition Eurer Heimat nicht wertschätzt?“, kommt es von einer Frau. „Habt Ihr Euch gegen Euren Glauben gewendet, der seit zweihundert Jahren besteht?“
Ich spüre, wie mein Körper immer stärker zittert und meine Blicke wandern unruhig zwischen Santiago, Rivera und der Menschenmenge hin und her.
„Seid Ihr womöglich nicht so fromm, wie Ihr es behauptet habt?“
„Wer sollte die Zwangsheirat befürworten?“, mischt sich jemand anderes ein. Vermutlich jemand aus Carazita. „Nur die Liebe allein sollte Grund für eine Hochzeit sein!“
„Es geht nicht um die Verweigerung der Liebe, sondern um eine Tradition und einen Glauben, der jahrelang gilt“ Die Frau macht eine Pause. „Oder jedenfalls gegolten hat.“
Abrupt löst sich Santiagos Hand aus meiner und fährt aus dem Sessel. 
„Ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren!“, sagt er ruhig, doch ich spüre, wie seine Stimme leicht zittert. „Unsere Hochzeit basierte auf nichts anderem als Liebe.“
Und dann sagt er etwas, von dem ich niemals gedacht hätte es jemals aus einem Mund zu hören. Etwas, mit dem er mich so sehr verletzt, wie noch nie. Etwas, mit dem er mich vor einen tiefen Abgrund stellt.
„Meine Frau ist genauso gegen eine Zwangsheirat ohne Liebe und Einwilligung der Eheleute, wie auch Carazita“ Er blickt mich erwartungsvoll an. „Ist es nicht so?“

Seit einer gefühlten Ewigkeit hallen seine Worte in meinem Kopf wider, während ich die stummen Blicke der Menschen auf mir spüre und gleichzeitig meinen Herzschlag vernehme, der meinen gesamten Körper zum Beben bringt.
Mein Volk blickt mich an. Meine Völker. Zweigespalten durch zwei völlig verschiedene Kulturen. Wie soll also meine Antwort ausfallen, ohne eines meiner Völker anzugreifen und zu verraten?
Ich schlucke. Meine Hand fährt unwillkürlich zu meinem Siegelring. Jener, auf dem sich der Olivenzweig, das Zeichen meiner Heimat, befindet. Meine Heimat.
„Nein“, flüstere ich und schlagartig ist es so ruhig, als befände ich mich auf einem Friedhof.
Eine schlagartige Kälte durchfährt meinen Körper. Kälte, die die Blicke der Menschen aus Carazita auslösen, die mich mit Verachtung, Hass und Enttäuschung mustern. Doch keiner dieser Blick löst eine solche Kälte, eine solche Trauer und eine solche Angst in mir aus, wie die blauen Augen von Santiago, die mich erschüttert anblicken. Unbemerkt schüttelt er den Kopf.
Er wurde verraten. Er wurde enttäuscht. Er wurde verletzt.
Und das nur durch mich. Durch mich, die zu fromm, zu gläubig ist, um ihre Heimat zu verraten.
Durch die, die zu selbstsüchtig ist, um an die Gefühle ihres Ehemannes zu denken.
Und an die Konsequenzen, die dieses eine Wort haben wird.
Denn ich habe gerade nichts anderes getan, als öffentlich meine Liebe zu Santiago abzustreiten.
Und habe ihm damit das Herz gebrochen.

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt