Kapitel 21

187 7 0
                                    

Nachdem ich Santiago dazu gezwungen habe, noch mindestens zwei Tage im Bett zu bleiben und sich auszuruhen, damit seine Wunden vollständig verheilen, berichtet mir Francisco jeden Tag von den vielversprechenden Bauarbeiten der Schule für die Kinder des Elendsviertels. Santiago und ich haben keine Kosten und Mühen gescheut, ehe wir die besten Architekten des Landes gefunden haben, um das Schulgebäude so schnell wie möglich zu errichten.
Während der Bau immer noch nicht abgeschlossen ist, verbringe ich meine Zeit häufig mit den Kindern, lese ihnen vor und erzähle ihnen von meiner Heimat, sehr zum Unwohl von Santiago, der mich immer wieder daran erinnert, dass die Mehrheit der Bewohner des Elendsviertels Kriminelle sind.
„Den Menschen wird durch uns geholfen, Santiago“, habe ich ihm erklärt und ihm aufmunternd zugelächelt. „Sie werden mir nichts tun.“
Und auch wenn er mich täglich über seine Sorgen, ich könne verletzt werden, in Kenntnis setzt, ändert dies nichts an meinen tagtäglichen Besuchen bei den Kindern. Anfangs haben sich lediglich Wenige in meine Nähe getraut. Die Meisten wurden immer noch von ihren Eltern ins Haus geschickt, sobald die Pferde von Francisco und mir in Sicht kommen. Aber mit der Zeit, und mit den ermutigenden Worten von Iván, trauten sich immer mehr Menschen in meine Nähe, bis sich schließlich alle Kinder um mich scharen und mich mit erwartungsvollen Blicken ansehen. Sie alle haben erkannt, dass ich lediglich eines will: Hoffnung. Hoffnung auf eine engere Beziehung zwischen ihnen und dem Rest Carazitas. Hoffnung auf bessere Bildung und Arbeitsplätze für diese Menschen.
Und als ich an jenem Tag von Hufgeräuschen hinter mir aufgeschreckt werde und mich umdrehe, wird eine weitere Hoffnung tief in meinem Inneren, verborgen von allen anderen, geweckt: eine Hoffnung darauf, dass die Beziehung zwischen Santiago und mir nicht mehr von Drohungen seines Vaters abhängt.
„Die Bauarbeiten gehen prächtig voran“, informiert er Iván del Santo, der auf ihn zugegangen ist und ihm die Hand reicht.
„Das alles verdanken wir nur unserer Königin“, erwidert dieser und blickt zu mir.
Ich erwidere sein Lächeln, während meine Blicke zu Santiago wandern, dessen Augen auf mich gerichtet sind und mich glücklich anblinzeln.
Es ist Wochen her, seit ich ihn das letzte Mal so entspannt gesehen habe.
„Ich schlafe viel besser, seit ich weiß, dass es dem Volk gut geht“, hat er mir heute Morgen gesagt und lächelnd nach meiner Hand gegriffen. „Und das alles verdanke ich allein dir, Lucía.“
Reina! Was ist dann passiert?“, werde ich von einem Jungen aus meinen Gedanken gerissen und sofort fallen mir wieder die Kinder ein, denen ich noch das Ende meiner Geschichte schulde.
Lachend wende ich mich wieder ihnen zu. „Salvator reiste mehrere Nächte, erklomm Gebirgszüge und durchkämmte Regenwälder voller Pflanzen und Tiere, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Doch er wusste: er durfte nicht aufgeben. Er musste dieses Land finden. Das Land, das er seinem bedrohten Volk versprochen hatte. Doch seine Reise gestaltete sich als alles andere als einfach und nachdem er tagelang ohne Essen oder einen Tropfen Wasser durch das Gebirge gelaufen war, brach er schließlich zusammen.“
Die Kinder zucken erschrocken zusammen und einige halten sich schützend die Hände vors Gesicht.
„Aber er muss sein Volk retten!“, ruft ein kleiner Junge – León. „Er hat es ihnen doch versprochen!“
„Als Salvator das nächste Mal seine Augen öffnete, blendete ihn ein grelles Licht, als würde die Sonne ihm mitten ins Gesicht strahlen“, erzähle ich weiter. „Doch als er genauer hinsah, erkannte er, dass es sich nicht um die Sonne handelte. Eine junge Frau blickte zu ihm herab. Sie trug ein helles, funkelndes Gewand und ein leichter Schimmer ging von ihr aus. Ave, Salvator, sprach sie. Du hast deinem Volk Loyalität und Tapferkeit bewiesen. Nun hast du dein Ziel erreicht. Nimm zum Dank des Obersten Herren dies Land, das vor dir liegt und bereichere es mit deinem Schöpfergeist.
Salvator glaubte nicht, wie ihm geschah, doch ehe er die Möglichkeit besaß, der Frau zu danken, war diese bereits verschwunden. Und in diesem Augenblick konnte er das Land vor sich sehen: umschlossen von gigantischen Bergen, grünen Wäldern, Wiesen und Flüssen lag das Land, das seinem Volk und seinen Nachkommen Hoffnung versprechen würde. Und zu Ehren des Obersten Herren und in Erinnerung an die Worte, die ihm dieses Land geschenkt hatten, nannte er das vor ihm liegende Land Avenia. Zur Erinnerung daran, dass dieses Land seinem Volk Heil, Gesundheit und Unversehrtheit schenken wird.“
Lächelnd blicke ich in die Runde. „Und so ist meine Heimat entstanden.“
Die Kinder blicken mich mit großen Augen an.
„Die Frau in der Geschichte“, sagt Espera, „war das ein Engel? Und wer hat ihn geschickt?“
Ratlos hebe ich die Arme. „Die Menschen in dieser Geschichte nehmen die Rolle an, die du ihnen gibst“, erkläre ich. „Du allein bestimmst die Bedeutung einer Geschichte. Das hat mir meine Großmutter immer gesagt.“
„Können wir noch eine Geschichte hören?“, ruft ein Mädchen und sofort stimmen alle mit ein. „Ja! Bitte!“
„Es tut mir leid, euch enttäuschen zu müssen“, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir und ich spüre, wie mich zwei starke Arme von hinten umarmen, „aber die Königin und ich müssen euch nun leider verlassen.“
Seine Stimme bereitet mir eine Gänsehaut und während er mir hilft aufzustehen, protestieren die Kinder betrübt.
„Aber wir wollen noch eine Geschichte hören!“
„Die Königin, war doch gar nicht lange bei uns!“
„Wir sind noch gar nicht zum Lesen gekommen!“
„Das holen wir alles beim nächsten Mal nach“, versichere ich und winke den Kindern zum Abschied zu.
Doch anstatt mir zurückzuwinken, wie die anderen Kinder, stürmt León plötzlich auf mich zu und umarmt mich.
„Versprichst du das, Reina?“, fragt er mich und sieht zu mir hinauf. Seine Augen leuchten genauso blau, wie die von Santiago und ich kann nicht anders, als mich zu ihm herunterzubeugen und ihm sanft durchs Haar zu streichen. „Ich verspreche es dir, León. Hoch und heilig.“
Der kleine Junge lacht fröhlich und ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. „Und jetzt geh zu den anderen Kindern, ja? Bis bald!“
„Bis bald!“, rufen die anderen Kinder und León winkt mir zu.
Schweren Herzens drehe ich mich zu Santiago um und folge ihm zu den Pferden. Die ganze Zeit über spüre ich, wie er mich von der Seite ansieht und ein paar Mal Luft holt, als wolle er etwas sagen, es dann aber doch nicht tut.
Vorsichtig hilft er mir auf mein Pferd und sitzt wenige Sekunden später ebenfalls auf. Im langsamen Trab reiten wir zurück zum Schloss, während hinter den Bergspitzen bereits die Sonne untergeht. Erst jetzt spüre ich, wie müde ich bin und wie schrecklich schnell die Zeit wieder vergangen ist.
Auch Santiago scheint meine Erschöpfung zu bemerken: „Du siehst müde aus, Lucía“, höre ich seine Stimme neben mir. Sie klingt besorgt. „Es werden von Tag zu Tag mehr Stunden, die du bei den Kindern verbringst.“
Unwillkürlich muss ich lächeln, während mir die Gesichter der Kinder durch meinen Kopf schwirren. „Ich weiß. Und ich genieße die Zeit dort mit vollen Zügen“, schwärme ich und drehe den Kopf in seine Richtung – Augenblicklich halte ich inne.
„Santiago, was ist los?“, frage ich.
Die Blicke, die er auf mich richtet, gefallen mir alles andere als gut.
„Sprich mit mir! Geht es dir nicht gut? Ist irgendetwas mit dir?“
Ungläubig schüttelt er den Kopf. „Du bist unglaublich, Lucía“, erwidert er. „Du fragst tatsächlich mich, ob es mir gut geht?“
Schüchtern nicke ich. „Wieso sollte ich dich nicht danach fragen?“
Leise seufzend blickt er zu Boden. „Du solltest mich nicht danach fragen, weil es momentan deine Gesundheit ist, die mir Sorgen bereitet!“
Erschrocken zucke ich zusammen. „Dazu hast du keinen Grund“, versuche ich ihn zu beruhigen, doch Santiago fällt mir ins Wort: „Was glaubst du, wie viele Stunden du die letzten Tage dort verbracht hast?“, will er wissen.
Nachdenkend zucke ich mit den Achseln. „Ich weiß nicht recht. Vielleicht fünf Stunden?“
„Lucía“, sagt Santiago betont langsam und lässt mich dabei keine Sekunde aus den Augen. „Die letzte Woche hast du jeden Tag über zehn Stunden dort verbracht. Und da fragst du dich tatsächlich, wieso ich mir Sorgen um dich mache?“
Fassungslos sehe ich ihm in die Augen. Erst jetzt spüre ich, wie kalt es auf einmal geworden ist. Erst jetzt sehe ich, wie die Sonne langsam hinter den Bergen untergeht. Und erst jetzt sehe ich, wie allmählich die Straßenlaternen in der Stadt angehen.
Ich halte die Luft an. Die ganze letzte Woche habe ich ihn von morgens bis abends alleine gelassen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er sich Sorgen machen könnte. Ungläubig schüttle ich den Kopf. Wie konnte ich nur so selbstsüchtig sein?
„Das wollte ich nicht, Santiago“, entschuldige ich mich leise. „Ich hatte keine Ahnung, dass du besorgt bist. Ich… ich wollte doch lediglich für die Kinder da sein. Sie fragen so häufig nach mir.“
„Ich weiß“, antwortet er. „Und ich weiß, wie viel dir die Kinder bedeuten. Besonders“, er lächelt, „besonders dieser kleine, dunkelhaarige Junge. Wie war noch gleich sein Name?“
Ein Lächeln erscheint in meinem Gesicht. „León“, erkläre ich ihm.
„León“, sagt er mehr zu sich selbst, als zu mir und sieht mich mit seinen meeresblauen Augen an. „Er scheint dich sehr zu lieben.“ Hat seine Stimme eben noch besorgt geklungen, dringt sie jetzt sanft und liebevoll an mein Ohr und verbreitet ein angenehmes Kribbeln über meiner Haut.
„Ich verspreche dir, dass ich dir nicht mehr solche Sorgen bereiten werde“, wechsle ich schnell das Thema. Am Horizont erkenne ich bereits die Dächer des Palastes.
„Ich werde mich nicht mehr so viele Stunden dort aufhalten, wenn dir das lieber –“
„Nein, Lucía“, berichtigt er mich mild. „Ich will dich nicht von etwas abhalten, das dir so sehr am Herzen liegt. Ich will nur nicht, dass du neben den Kindern deine Gesundheit außer Acht lässt.“
Vor dem Palast angekommen sitzt Santiago ab, bevor er mir von meinem Pferd hilft. Seine Hände sanft um meine Taille gelegt, hebt er mich von meinem Rappen herunter und setzt mich auf dem Boden ab.
Ich bedanke mich bei ihm und eigentlich müssten sich seine Hände in diesem Augenblick wieder von mir entfernen, doch er verharrt in seiner Haltung und sieht mich mit wehmütigen Blicken an. Vorsichtig, als könne er mich zerbrechen, fahren seine Hände von meiner Taille hinauf zu meinen Schultern, bis zu meinem Gesicht.
Er umfasst es behutsam und streicht mir mit seinen Fingern eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Lucía?“, fragt er.
Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe. „Heute Morgen“, flüstere ich und greife schnell nach seiner Hand, ehe er wütend reagieren kann. „Ich gebe dir mein Versprechen, Santiago!“, sage ich eindringlich. „Ich werde auf meine Gesundheit achten. Und darauf, dich nicht mehr besorgt im Palast zurückzulassen.“ Ich sehe zu Boden. „Denn das habe ich nie gewollt. Es tut mir leid.“
Eine Weile sehe ich Santiago in die Augen und versuche zu lesen, was in ihm vorgeht. Und genau in dem Moment, in dem ich glaube, mit keiner Antwort mehr von ihm rechnen zu müssen, erscheint ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht und er erwidert meinen Handdruck.
„Du wolltest nur deine Freiheit und das verstehe ich“, antwortet er. Seine Finger streichen weich über meine Hand. „Das verstehe ich mehr, als du womöglich glaubst.“

Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt