„Um Himmels Willen, Lucía!“ Rosa stürmt auf mich zu, als ich das Eingangstor betrete und legt ihre Arme um mich. „Du bist ja völlig durchnässt!“
„Ich bin in das Gewitter gekommen“, sage ich entschuldigend und nehme die Kapuze meines Umhangs ab. Um ehrlich zu sein bin ich froh, dass man zwischen all den Regentropfen die Reste meiner Tränen nicht erkennen kann.
„Wo ist Santiago?“
„Ich hole dir ein paar trockene Sachen!“, sagt sie sofort und will gerade davoneilen, doch ich halte sie auf.
„Nein! Das ist nicht nötig.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust um mein Zittern zu verbergen. „Ich bin einfach nur müde.“
Rosa sieht mich mit gerunzelter Stirn an. „Liebes, ist alles in Ordnung?“
Ich nicke lediglich und versuche den Anschein eines schmalen Lächelns hervorzubringen. „Ich bin nur sehr erschöpft“
Als würde sie sich an meine Frage von eben erinnern, sieht Rosa kurz in das Treppenhaus, das sich hinter uns erstreckt. „Ich habe seine Majestät den ganzen Tag noch nicht gesehen“
„Danke“, sage ich kurz und gehe an meiner Amme vorbei in das Treppenhaus, während ich versuche, mir meine verletzte Seele möglichst nicht anmerken zu lassen. Meine Schritte hallen an den hohen Wänden wider und mein nasser Rock schleift schwer über den Fußboden und hinterlässt eine Spur Wassertropfen auf den Stufen.
„Was soll das bedeuten, Sie können keine Wachen aussenden?“ Ein Donnerschlag drängt durch das Schloss und augenblicklich halte ich inne.
„Verdammt nochmal, da draußen ist ein Sturm und in den Bergen wimmelt es vor Jaguaren! Sie könnte getötet werden!“ Seine Stimme ist zum Reißen angespannt. Eine Stimme antwortet ihm, doch sie ist zu leise, um sie zu verstehen.
„Vale. Wenn hier niemand Interesse zeigt, dann gehe ich eben alleine!“ Schnelle Schritte kommen auf mich zu und ehe ich mich auch nur bewegen kann, stürmt Santiago aus dem Korridor und stößt beinahe mit mir zusammen.
„Lucía“ Wenige Sekunden lang sieht er mich perplex an, ehe er mich an sich zieht und erleichtert ausatmet. „Du bist da… Dios, ich habe mir solche Sorgen gemacht…“
„Mir geht's gut“, sage ich leise. Ein Stechen schmerzt in meiner Brust und Santiago drückt mich ein wenig von sich.
„Du bist ja ganz nass“, bemerkt er und zieht mich mit sich den Flur entlang.
„Ich bin in das Gewitter gekommen“, wiederhole ich und folge ihm zögernd in unseren Schlafsaal.
„Hier, zieh das über“ Er hilft mir aus dem durchnässten Umhang und legt mir einen weich gefütterten Morgenmantel über.
„Du musst das alles nicht tun“, sage ich, drücke den weichen Stoff aber dennoch an mich. Ich spüre Santiagos Blicke auf meinen liegen, doch ich bringe es nicht zustande, ihm in die Augen zu sehen. Wie sehr er sich um mich kümmert… Und ich hintergehe ihn auf so eine schreckliche Weise.
„Doch, das muss ich. Das will ich.“ Er seufzt und setzt sich auf das Bett, auf das ich gesunken bin. „Ich muss mich bei dir entschuldigen, Lucía.“ Er umfasst meine vom Regen kalte Hand. „Ich hätte nicht so reagieren dürfen. Ich hätte dir vertrauen müssen, doch das habe ich nicht getan. Und das tut mir leid.“
Ich schüttle den Kopf. Das Brennen in meinen Augen wird von Sekunde zu Sekunde stärker. „Tu das bitte nicht. Du musst dich nicht entschuldigen.“
Santiago dreht den Kopf zu mir und mustert mich einen Moment. „Was ist passiert?“ Seine Stimme ist sanft, doch gleichzeitig lässt sie eine Gänsehaut auf meinen Armen entstehen, wie das Kratzen auf Porzellan.
„Nichts“, antworte ich schnell. Zu schnell.
„Lüg mich nicht an“ Vorsichtig hebt er eine Hand, doch ich zucke unwillkürlich zurück. „Bitte.“
Auf einmal scheinen mein Körper und Geist gegen mich zu arbeiten. Eigentlich möchte ich mich nur noch nach hinten fallen lassen, die Augen schließen und schlafen. Und am liebsten sofort aus diesem Albtraum erwachen. Doch als ich den Kopf anhebe und in die tiefblauen Augen von Santiago blicke, scheinen all diese Dinge auf einmal nicht mehr wichtig zu sein.
„Santiago?“
„Ja?“
„Könntest du mich bitte umarmen?“
Anstatt mir eine Antwort zu geben, zieht er mich sanft an sich und streicht mir über den Rücken. Seine Umarmung ist zärtlich und dennoch lässt sie mich die Stärke spüren, mit der er mich festhält. Seine angenehme Wärme hüllt mich ein und ich schließe für einen Moment die Augen und lasse mich in seinem angenehmen Geruch fallen.
„Ich hatte solche Angst um dich“, sagt Santiago plötzlich und wickelt eine feuchte Haarlocke um seinen Finger. „Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass wir uns im Streit trennen.“
„Du hast recht“
„Wie war der Ausritt überhaupt?“, fragt er so plötzlich, dass mir schlagartig der Atem stockt und ich eine Armlänge Abstand von ihm nehme, um ihn ansehen zu können und mir gleichzeitig ein paar Augenblicke zu verschaffen, über meine Antwort nachzudenken.
Ich frage mich was schlimmer ist. Noch eine Sünde zu begehen und ihm die Wahrheit zu ersparen oder ihn von dem Kuss zu erzählen und damit sein Vertrauen zu brechen.
Ich sehe ihm in seine leuchtenden Augen, die mich erwartungsvoll ansehen.
Mein Herz bricht.
Nein.
Nein, ich kann ihm das einfach nicht antun!
„Es war... schön“, lüge ich und lächle. „Es hätte dir gefallen. Ich kenne eine Stelle an einem Felsvorsprung, von dem aus du das gesamte Königreich überblicken kannst.“
Santiago erwidert mein Lächeln. „Das hört sich nach deinem Lieblingsplatz an“, sagt er und fast glaube ich, einen Hauch von Trauer in seiner Stimme hören zu können.
Ich schlucke. „Das stimmt“, sage ich schließlich. „Ich bin oft als Kind dort gewesen, zusammen mit Pablo. Dieser Ort hat mir sehr gefehlt.“ Langsam hebe ich die freie Hand und berühre die seine, die an meiner Halsbeuge ruht.
„Doch der Gedanke dort zu sein, während du nicht bei mir bist, war noch viel schlimmer.“
Ruckartig hebt er den Kopf. Ich erkenne, dass er etwas sagen will, doch ich unterbreche ihn, bevor es dazu kommt: „Ich will mich nicht mehr mit dir streiten, Santiago“, gestehe ich ihm. „Dafür bist du mir in den letzten Monaten einfach viel zu wichtig geworden. Bitte versprich mir, dass das nicht mehr passiert.“
„Ich verspreche es dir“, sagt er und lässt unsere beiden Hände sinken. „Du solltest jetzt schlafen, Lucía. Es ist spät und du musst erschöpft sein.“
„Bin ich dir denn auch wichtig geworden?“, flüstere ich und spüre schlagartig, wie er innehält. Seine Augen blicken mich geweitet und mit einer Mischung aus Irritation und Anspannung an.
„Aber das weißt du doch“, erwidert er. „Du weißt, wie sehr du mein Leben bereichert hast.“
„Ja“, antworte ich leise, ehe ich noch die letzte Lücke zwischen uns schließe und ihn küsse.
Dieser Kuss ist nicht zu vergleichen mit dem, was mit Pablo passiert ist: Bei meinem besten Freund habe ich nichts außer der Wärme seiner Lippen gespürt. Doch die Gefühle, die Santiago in mir entfacht sind so intensiv, so real und so überwältigend, dass ich erschaudere.
Kurz glaube ich, er würde mich sofort von sich schieben, doch dann spüre ich, wie ihm ein leises Seufzen entfährt und er mich feste mit seinen Armen umschlingt, sodass ich abrupt nach Luft schnappe. Er erwidert meinen Kuss mit einer solchen Leidenschaft und einer solchen Verzweiflung, als würde er wissen, was auf dem Felsvorsprung passiert ist.
Ein unerträglicher Schmerz durchfährt mein Herz und ich vergrabe die Hände in seinem Haar und streiche sanft durch die weichen Locken, während ich mit aller Kraft versuche, die Erinnerungen an vorhin wegzuwischen.
Ganz ohne mein Zutun sinke ich auf das Bett und ziehe ihn zu mir hinunter, sodass er halb auf mir liegt und ich sein wild klopfendes Herz an meinem spüren kann. Seine Finger wandern zärtlich über mein Gesicht und hinunter zu meinem Hals und meiner Taille.
Von der Kälte, die ich eben noch so deutlich gespürt habe, ist nun nichts mehr vorhanden. Stattdessen hat sich brennende Hitze in meinem Inneren breitgemacht, die mit jeder seiner Berührungen zunimmt.
Atemlos reiße ich mich von ihm los. „Glaubst du nun immer noch, Pablo könnte ein Konkurrent für dich sein?“, frage ich mit klopfendem Herzen, während ich zu ihm hinaufblicke.
Seine Pupillen sind stark geweitet, sodass nur noch ein schmaler blauer Ring seiner eigentlichen Augenfarbe erkennbar ist.
„Er wird niemals eine Konkurrenz für dich sein“, versichere ich ihm und umfasse sein Gesicht mit beiden Händen. „Niemand wird jemals eine Konkurrenz für dich sein.“
„Ich liebe dich“, flüstert Santiago.
Schlagartig stockt mein Atem. „Versprich mir, dass das niemals enden wird“, wispere ich. „Ich brauche dich, das weißt du.“
„Das verspreche ich dir. Immer.“
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romance„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...