„Lucía, warte!“
Die Rufe von Santiago begleiten mich den gesamten Heimweg lang, doch sie prallen an mir ab, wie die Regentropfen gestern Abend. Dabei ist es nicht die Wut, die mich dazu drängt mich von ihm zu distanzieren: Es ist die Angst. Angst davor, dass Santiago etwas zustoßen könnte, verbunden mit der Angst vor den Worten meines Vaters, von denen ich immer noch nicht weiß, ob ich ihnen Glauben schenke oder nicht. Und die Angst davor, dass er womöglich recht hat, was Santiago angeht. Dass er mich tatsächlich nur benutzt um an mein Heimatland herankommt. Doch wieso bringe ich es einfach nicht zustande, in ihm den Lügner zu erkennen, der er laut meines Vaters ist? Wieso habe ich das dringende Bedürfnis ihn zu beschützen und wieso bricht es mir jedes Mal mehr das Herz, meinen Namen aus seinem Mund zu hören?
„Bitte, Lucía, rede mit mir!“ Seine Stimme kommt näher.
„Halt“ Abrupt stoppe ich Negro und steige ab. Erwartungsvoll blicke ich ihn an.
„Na lauf schon“, sage ich liebevoll und gebe ihm einen leichten Schubs. „Du kennst den Weg doch.“
Einen Moment sieht mich mein Rappe aus dunklen Augen an, galoppiert dann aber alleine weiter in die Richtung des Schlosses.
Eine Sekunde sehe ich ihm nach, ehe ich Schritte hinter mir höre und ein Schimmel dem schwarzen Pferd folgt.
Ich hole tief Luft und drehe mich um. Schlagartig werden meine Augen von den seinen angezogen, wie durch einen magischen Bann.
„Nun gut, rede“, breche ich das Schweigen.
„Warum tust du das?“, fragt er. Seine Stimme ist zum Reißen angespannt und gleichzeitig schwingt ein Ton darin, der mich zusammenzucken lässt. Enttäuschung.
„Verdammt, wieso distanzierst du dich seit unserer Ankunft von mir? Erst läufst du vor mir weg und dann wirfst du dich Stunden später um meinen Hals –“
„Weil ich mir Sorgen mache, verstehst du das nicht?“, schreie ich ihn an und schrecke im selben Augenblick zurück, erschüttert über meine eigene Stimme.
Santiago schüttelt lediglich den Kopf. „Aber ich verstehe nicht... Dazu hast du doch gar keinen Grund.“
Mein Vater hat mich anders unterrichtet.
„Santiago, du weißt nichts über dieses Land und noch weniger über dessen Einwohner. Die Kriegserklärung und das erhöhte Rüstungsaufkommen an den Grenzen sind noch nicht lange her. Die Menschen erinnern sich an sowas.“ Ich schlucke. „Ich möchte nicht, dass du außerhalb des Schlosses alleine bist. Nicht, bis wir wirklich ganz Avenia überzeugen konnten. Denn ich kann leider für keine Handlung garantieren.“
„Aber wieso wendest du dich von mir ab?“, hakt er nach. Mit langsamen Schritten geht er auf mich zu. „Das macht doch überhaupt keinen Sinn.“
Das tut es auch nicht, stimme ich ihm in Gedanken zu. Aber anders weiß ich momentan nicht, wie ich dir gegenübertreten kann.
„Wir müssen dafür sorgen, dass Avenia uns glaubt“, sage ich deutlich. Ich drehe mich um und blicke ihm direkt in die Augen. „Ich lasse nicht zu, dass so etwas wie damals noch einmal geschieht. Ich habe mir als Kind geschworen, dass ich dafür sorgen werde, dass mein Land unter meiner Regierung kein Leid ertragen muss.“
„Aber das muss es doch auch gar nicht“, erwidert er sanft.
„So gerne ich dir auch Glauben schenken möchte“, antworte ich ihm mit tonloser Stimme, „aber mein Gefühl sagt mir etwas ganz anderes...“
Ich bemerke aus dem Augenwinkel, wie Santiago langsam auf mich zukommt und die Hand nach mir ausstreckt, doch ehe er mich berühren kann durchdringt ein Beben den Erdboden unter uns, gefolgt von einem lauten Kanonenschlag, der die Luft durchschneidet, wie ein scharfer Dolch. Für einen Moment höre ich nichts außer dem hohen Widerhall des Einschlages, ehe ein Schrei meinen Kopf nach vorne schnellen lässt und ich in zwei leblose, blaue Augen sehe, die aus der dunklen Blutlache hervortrete.
Schreiend schrecke ich auf und hole keuchend Luft. Tiefe Schwärze umgibt mich.
Panisch blicke ich um mich und brauche einige Sekunden um zu begreifen, dass ich mich im Bett unseres Schlafsaals befinde. Ich kann regelmäßiges Atmen hören und drehe den Kopf nach rechts... und atme erleichtert aus.
Ihm ist nichts geschehen, hallt es in meinem Kopf wider und ich falle erleichtert und beängstigt zurück in das Kissen.
Andererseits haben mich meine Träume noch nie belogen...
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romance„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...