"Seit nun mehr als zweihundert Jahren existiert unser getrenntes Land. Abgespalten von Peru und Argentinien hat es gelernt, sich selbst zu versorgen und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein zu müssen. Wir besitzen vielleicht noch die Landessprache, jedoch hat sich in all den Jahren nichts an unserer Kultur und besonders an unserer Politik geändert. Kaum jemand scheint dem kleinen Land auf der Landkarte zwischen all den großen Ländern Bedeutung zu schenken, doch für mich war es bisher die einzig für mich existierende Welt – meine Heimat.
Und eine solche soll es auch bleiben. Heimat für jeden von uns. Seit zweihundert Jahren tut meine Familie alles in ihrer Kraft Stehende, um für ihr Volk zu sorgen. Und meine Eltern, ich und auch unsere Nachkommen werden diesem Prinzip nachgehen. Um das zu beschützen, was den größten Wert in Avenia hat: Unser Volk.
Und damit möchte ich den Abend für eröffnet erklären. Ich wünsche Ihnen eine schöne Feierlichkeit und danke Ihnen allen für Ihr Kommen!"
Ich verbeuge mich und nehme meine Karten, die ich mir für die Eröffnungsrede bereitgehalten habe, wieder an mich. Das versammelte Volk, das den gesamten Ballsaal füllt, klatscht und jubelt.
Mein Vater, Alberto Miguel de Garcia legt mir eine Hand auf die Schulter und nickt lächelnd, während er mich von der Empore begleitet.
"Gut gemacht, Lucía", sagt er und blickt über die Menge, die sich am Buffet bedient, tanzt und sich unterhält.
Meine Blicke folgen den seinen. "Bist du zufrieden mit mir?", frage ich.
"Das kannst du dir bereits selbst beantworten, meine Tochter", antwortet er mir. "Du weißt, dass ich mehr als stolz auf dich bin, oder?"
Ich nicke, kann jedoch das mulmige Gefühl, das ich seit mehreren Wochen spüre, nicht ganz unterdrücken, während ich auf die großen Uhrzeiger über der elfenbeinfarbenen Flügeltür sehe, die zeigen, dass es lediglich eine Stunde bis zu meinem Geburtstag ist. Etwas, worüber man sich normalerweise freuen würde. Doch so stolz ich auf mein Land, mein Volk und meine Kultur bin – ganz perfekt scheint es mir dennoch nicht. Das weiß niemand besser als mein Vater, der mich stumm anblickt, mir über mein schwarzes Haar streicht und zu meiner Mutter zurückkehrt.
Sofía de Garcia ist eine wahre Schönheit. Von ihr habe ich die tiefschwarzen Augen geerbt, die manche für schön, andere für angsteinflößend halten. Sie ist eine einfache Kaufmannstochter – oder besser gesagt war sie das. Denn genau an diesem Punkt beginnt auch schon die Politik und ein wesentlicher Teil der avenischen Kultur:
Die Zwangsheirat.
Nicht, dass ich meine Mutter nicht liebe. Ich liebe meine Eltern über alles. Doch gleichzeitig verbinde ich ihre Heirat mit einem Stich in meinem Herzen. Denn genau das ist es, was mich erwarten wird.
Seit zweihundert Jahren, seit der Gründung Avenias herrscht die Tradition – die Pflicht – des ältesten Königskindes, eine von den Eltern vereinbarte Heirat einzugehen. Normalerweise ist man dabei auf Reichtum, Landeserweiterungen und Schutz gegen unseren einzigen Feind aus, weshalb man die Kinder mit anderen Königskindern vermählt. Im Fall meiner Eltern war dies jedoch anders:
Vor einigen Jahren herrschte in Avenia ein schrecklicher Bürgerkrieg, unter dem nicht nur das Königshaus, sondern selbstverständlich hauptsächlich das Volk gelitten hat.
Zu dieser Zeit hat mein Großvater die zu der Zeit einzig mögliche Entscheidung getroffen und damit die Tradition weitergegeben, die seit zweihundert Jahren existiert: Er hat darauf verzichtet, meinen Vater mit einer Adeligen aus dem Umland zu verheiraten, sondern hat sich für eine Heirat mit einer Bürgerlichen entschieden. Mit der Tochter des ärmsten Kaufmannes, den es in Avenia zu finden gab – meiner Mutter.
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romansa„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...