Anders als die vergangenen Wochen schließt mich Santiago nun nicht mehr aus den politischen Angelegenheiten aus.
Jeden Morgen finde ich einen kleinen Zettel auf dem Tablett mit meinem Frühstück vor, auf dem er in seiner schwungvollen Handschrift eine Uhrzeit und das Thema der Besprechung geschrieben hat. Und obwohl sich sein Vater bereits des Öfteren darüber geärgert hat, dass wir das Essen immer noch getrennt voneinander zu uns nehmen, hat es Santiago dabei belassen.
Und somit kommt es, dass ich auch an diesem Morgen die Treppen zu seinem Arbeitszimmer hinaufsteige und mir die Wachen, sich tief vor mir verbeugend, die Flügeltüre öffnen.
Das ist eine Sache, mit der ich anfangs nie zurechtgekommen bin. Selbstverständlich bin ich es gewohnt, dass sich Menschen vor mir verbeugen, doch jetzt hat diese Verbeugung eine ganz andere Bedeutung. Sie verehren mich nicht aus dem Grund, weil ich die Kronprinzessin bin, so wie ich es in Avenia war, sondern weil ich die Königin bin. Und dieser Gedanke lässt mein Herz um einiges schneller pochen.
„Eure Majestät“ Juan Emilio, einer der obersten Vorsitzenden des Kabinetts, der Versammlung der Minister ganz Carazitas unter der Führung von Santiago, verbeugt sich vor mir und gibt mir einen Handkuss.
„Señor Emilio“, begrüße ich ihn und gebe ihm ein Handzeichen abzutreten. „Ich hoffe, Sie warten noch nicht allzu lange. Seine Majestät wird jeden Moment eintreffen.“
Mag ich nach außen hin noch so ruhig wirken, innerlich bin ich hoch angespannt. Wo ist Santiago? Noch nie ist er zu spät zu einem Treffen hierhergekommen.
„So bleibt mir wenigstens ein wenig Zeit, mit meiner Königin in Zweisamkeit zu sprechen“, sagt er und lächelt. „Ihr wisst, weshalb ich hier bin?“
„Selbstverständlich“, erwidere ich und führe ihn in ein kleineres Zimmer mit einem geräumigen Tisch und mehreren Stühlen. „Lassen Sie uns doch hier im Nebenzimmer Platz nehmen, Señor.“
Juan Emilio setzt sich auf einen der Stühle, während ich mich ihm gegenübersetze, wobei ich darauf achte, neben uns einen Stuhl für Santiago freizuhalten.
„Ich verfolge Ihre Reformationen aufs Genaueste, müssen Sie wissen“, erkläre ich und blicke ihn über den Tisch hinweg an, während ich einen Schalter an der Wand betätige und keine Sekunde später ein Diener ins Zimmer tritt.
„Würden Sie unserem Gast bitte eine kleine Stärkung bringen? Er hatte eine lange Reise und ist mit Sicherheit erschöpft.“
Juan Emilio schüttelt erschüttert den Kopf. „Ihr seid zu gnädig, Eure Majestät, doch bitte keine Umstände wegen mir!“
„Die Gäste meines Ehemannes sind auch meine Gäste“, antworte ich und widme mich wieder ihm zu. „Sie kommen aus meinem Heimatland, Señor Emilio. Darf ich Sie fragen, was der Anlass dazu war und weshalb Sie vorher keinerlei Kontakt zum König gesucht haben?“ Meine Stimme klingt ruhig und dennoch ist ein spitzer Unterton nicht zu überhören. Ich habe diese Neuigkeit vor drei Tagen von Santiago erfahren und seitdem habe ich ein mehr als ungutes Gefühl in Verbindung mit Juan Emilio.
Wieso sollte einer der obersten Vorsitzenden des Kabinetts meine Heimat aufsuchen? Was erhofft er sich daraus? Und wieso haben meine Eltern mich zu diesem Besuch noch nicht informiert?
„Oh, es ist nicht so, wie Ihr denkt, Eure Majestät“, versichert er mir und hebt beide Hände. „Ich habe lediglich den Verteidigungsminister an die Grenzen geschickt.“
Ungläubig starre ich ihn an. Was sucht das Militär an der Grenze zwischen Carazita und Avenia? Und wieso hat uns niemand informiert?
„Und der Grund Ihres nicht angemeldeten Alleingangs wäre?“
„Es handelte sich um keinen Alleingang, Eure Majestät! Und schon gar nicht um einen unangemeldeten.“, beteuert er und will fortfahren, als in diesem Moment eine Dienerin mit einem Tablett voller Tee und Gebäck hereinkommt und es neben dem Tisch auf einem Rollwagen platziert.
„Ich danke Ihnen“, sage ich und drehe mich erneut zu meinem Gegenüber um. Kommt es mir nur so vor oder ist er tatsächlich nervös? Seine Hände fahren fahrig zu der Tasse, in welche ich ihm eben Tee einschenke und seine Augen wandern in stetigen Bewegungen von mir zu der geschlossenen Flügeltür.
„Wenn es sich um keinen Alleingang handelte, Señor, wie kommt es dann, dass das Königshaus nicht Bescheid wusste?“, will ich wissen und fokussiere ihn scharf mit meinen Augen.
Juan Emilio seufzt leise. „Es war ein Befehl“, erklärt er langsam. „Ein Befehl des Königs. Er hat befohlen, das Waffenarsenal an den Grenzen zu verdreifachen.“
Unwillkürlich halte ich die Luft an und starre ihn ungläubig an. Der König… aber… nein! Abrupt stehe ich auf und drehe ihm den Rücken zu. Meine Blicke sind auf das Fenster vor mir gerichtet, von dem aus man das gesamte Land erblicken kann.
„Nennen Sie mir den Grund“
„Aber… Eure Majestät… ich war der Meinung Ihr seid über den Grund informiert?“
Schlagartig drehe ich mich zu ihm um. In meinem Kopf rauscht es und mir läuft ein eiskalter Schauer über die Haut, während ich langsam auf ihn zugehe, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
„Nennen Sie mir den Grund!“, wiederhole ich und betone dabei jede einzelne Silbe, doch das, was ich zu hören bekomme, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren:
„Der Vertrag der beiden Königreiche besagt eine potentielle Teilung Avenias, um die Schulden, die Carazita beglichen hat, wieder gut zu machen.“
„Ich kann mich an keinen Vertrag erinnern, der etwas solches besagt“, kontere ich. „Dem hätten meine Eltern nie zugestimmt.“
„Verzeiht mir, Eure Majestät, doch dann müssen die Inhalte des Vertrages von Seiten Avenias nicht zureichend erläutert worden sein“
Nicht zureichend erläutert worden sein? Was soll das bedeuten?
„Euer Vater hat diesen Vertrag nicht eingehalten.“ Juan Emilio verstummt kurz, ehe er die alles entscheidenden Worte sagt: „Und dieser Vertragsbruch bedeutet Krieg.“
Ein lauter Schlag ist zu hören und ich ertappe mich dabei, wie ich um mich blicke, um die Quelle des Geräusches ausfindig zu machen, ehe ich bemerke, dass ich die Teetasse in meiner Hand fallen gelassen habe. Winzige Porzellanscherben liegen vor meinen Füßen verteilt.
Scherben, denke ich. Und genauso zertrümmert wird meine Heimat sein…
In diesem Moment wird die Flügeltür geöffnet und Santiago blickt mich mit entsetztem Gesicht an. Seine Augen wandern von meinem Gesicht zu der zerbrochenen Tasse auf dem Boden.
„Lucía, was –“, setzt er an, doch ich schneide ihm das Wort ab: „Señor Emilio wollte gerade gehen“ Ich drehe mich zu ihm um. „Nicht wahr, Señor?“
Sofort springt der oberste Vorsitzende von seinem Stuhl auf. „Selbstverständlich, Eure Majestät. Es hat mich erfreut, mit Euch über unsere politischen –“
„Sie wollten gerade gehen!“, unterbreche ich ihn scharf und funkle ihn dabei an.
Und keinen Wimpernschlag später schlägt die Tür hinter ihm zu und Santiago und ich bleiben alleine zurück.
„Lucía?“ Langsam nähert er sich mir und mustert mich von oben bis unten. „Was ist passiert? Was hast du mit ihm gemacht?“
„Was ich mit ihm gemacht habe?!“, frage ich empört. „Sollte ich nicht eher fragen, was der König Carazitas bezüglich der Grenzen zu Avenia beschlossen hat?“
Santiago schüttelt den Kopf. „Wovon redest du?“, will er wissen und geht einen Schritt auf mich zu, aber ich entferne mich sofort von ihm.
„Komm ja nicht näher“, flüstere ich. Meine Stimme zittert unnatürlich, genauso wie meine Hände, die ich fest um meine Arme geschlungen habe.
Besorgt und zugleich verängstigt liegen die Blicke von ihm auf mir. Doch er bleibt an der Stelle, an der er sich gerade befindet. „Soll ich die Ärztin holen?“
„Glaube ja nicht, dass ich dich irgendjemanden holen lasse, der für meine Gesundheit sorgen soll!“ Ich hebe den Kopf ein wenig, sodass ich ihm direkt in die Augen sehen kann. Seine Miene ist immer noch wie erstarrt, als bestände er aus weißem Granit.
„Du wusstest davon“, flüstere ich tonlos. „Du wusstest von dem Vertrag, den unsere Eltern abgeschlossen haben und du hast für das Militär an den Grenzen gesorgt.“
Weiter schüttelt Santiago den Kopf. „Lucía, was hat dir Señor Emilio gesagt?“, fragt er mit leicht beschlagener Stimme, doch jetzt ist es zu viel für mich.
Das Blut in meinem Inneren scheint zu kochen und schnell, wie eine auflodernde Flamme, bin ich bei ihm. „Du sorgst dafür, dass dein Militär mein Land umbringt? Meine Familie umbringt?!“ Das Letzte schreie ich beinahe und Tränen lassen sein Gesicht vor mir verschwimmen.
„Lucía, was redest du denn da?“, fragt er verzweifelt und versucht nach meinem Arm zu greifen, doch ich bin schneller.
Erblindet durch meine Tränen und bebend vor Zorn hole ich aus und verpasse ihm eine schallende Ohrfeige.
Halb vor Überraschung, halb vor Schmerz stöhnt er auf und flucht leise. „Dios mio, Lucía was zum Teufel ist in dich gefahren?“
„Señor Emilio hat mir eben von dem Befehl des Königs berichtet“, informiere ich ihn. „Anscheinend hält es der König von Carazita für einen guten Einfall, mein Land mit einer Armee von Soldaten anzugreifen und Avenia den Krieg zu erklären!“
Fassungslos starrt mich Santiago an. „Das… das glaube ich nicht“
Enttäuscht schüttle ich den Kopf. „Du bist sogar zu arrogant, um deine eigenen Befehle zuzugeben“, murmle ich und will an ihm vorbeigehen, doch er hält meine Hand fest.
„Lucía, was auch immer Señor Emilio zu dir gesagt hat, ich war nicht derjenige, der den Befehl gegeben hat!“ Seine Augen liegen auf meinen. „Bitte… du musst mir glauben.“
„Erinnerst du dich noch an das, was ich dir vor ein paar Wochen gesagt habe?“, frage ich anstelle einer Antwort. „Dass ich Hoffnung hatte?“
Santiago schüttelt den Kopf. „Du hattest sie?“
„Ja“, erwidere ich und schüttle seine Hand ab. „Denn in diesem Augenblick ist die Hoffnung, einen nicht ganz so schrecklichen Ehemann zu haben, endgültig verflogen, Santiago.“
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Die Grenzen zwischen uns *abgeschlossen*
Romantik„Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Prinzessin Lucía" Unwillkürlich durchfährt mich ein weiterer Schauer, während er meine Hand langsam an seinen Mund legt und sie vorsichtig küsst. Mein Atem stockt. „Die Ehre ist ganz meinerseits"...