Kapitel 10 - Punch Out Drills

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Die andere Umkleidekabine ist Gott sei Dank leer und ich kann mich in Ruhe umziehen. Mein Outfit, (bestehend aus einer Sporthose und einem Sport-BH, ist ganz schlicht gehalten – in Schwarz und Weiß. Meine Haare sind zu einem Zopf gebunden. Zudem bandagiere ich mir auch beide Hände, um meine Hand- und Fingergelenke ausreichend zu schützen, wenn ich später an den Boxsack gehe. Meine Boxhandschuhe ziehe ich noch nicht an, aber nehme sie schon einmal mit, um sie nach dem Aufwärmen anzuziehen.
Sie waren ein Geschenk von meinen Eltern zu meinem letzten Wettkampf. Da waren sie noch stolz auf ihre boxende Tochter. Wenigstens etwas, dass ich in ihren Augen gut konnte. Ich habe wirklich sehr selten verloren, um genau zu sein, bis heute nur vier Mal und dabei nicht durch ein K.O. Aber das ist ja nun vorbei und somit auch die positive Aufmerksamkeit meiner Eltern. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie jetzt so tun, als würde es mich nicht mehr geben. Die Schande, die ich über sie gebracht habe, werden sie mir schließlich nie verzeihen.
Ihnen war es immer sehr wichtig, nach außen hin, die perfekte Familie darzustellen. Super Jobs, super Haus, super Ehe und super Tochter. Nur leider bin ich das schwache Glied der Kette und habe unser Ansehen sehr geschädigt. Vielleicht werden sie mit meinem Umzug wieder besser in Mancos dastehen, ich würde es ihnen zumindest gönnen.

Meine Boxhandschuhe lege ich erst einmal neben einen freien Boxsack und stelle auch mein Wasser gleich dazu. Zuerst werde ich mich ein wenig aufwärmen. Dazu hole ich mir ein gelbes Springseil und springe ganz locker und entspannt, nicht so extrem wie man das in den meisten Boxfilmen sieht. In solchen Filmen wird eh immer total übertrieben, man muss für das Techniktraining schließlich noch genug Kraft haben und sich nicht schon vorher total auspowern.
Im ermüdeten Zustand ist es einfach unmöglich die koordinatorische Aufmerksamkeit zu behalten, also erstmal locker flockig.
Die zwei Jungs von eben sind auch schon in der Halle, aber sie scheinen noch auf die anderen zu warten und unterhalten sich auf einer Bank miteinander.
Als der mit dem Bart mich bemerkt hat, tippt er seinen Kumpel an und zeigt auf mich. Dieser guckt mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck in meine Richtung und als unsere Blicke sich treffen, fängt er an zu grinsen.
Er scheint mich von oben bis unten sehr intensiv zu mustern und als ich sehe, dass er sich dabei über die Lippen leckt, werde ich nervös und mein Herzschlag verdoppelt sich.
Mensch, Ava, konzentrier dich lieber aufs Wesentliche, solche Jungs bringen dich nur wieder in Schwierigkeiten, rufe ich mir ins Gedächtnis.
Also locker bleiben, schön weiter aufwärmen und versuchen nicht in ihre Richtung zu gucken. Alles leichter gesagt als getan, denn während des Seilspringens riskiere ich doch noch einmal einen flüchtigen Blick. Ein Fehler, denn beide schauen schmunzelnd in meine Richtung. Oh man, dass kann ja noch was werden.
Die Eingangstür öffnet sich und weitere junge Männer spazieren herein. Alle durch die Bank weg sehr gut in Form. Ich würde sie zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren schätzen.
Die gerade hereingekommene Gruppe fängt breit an zu grinsen, als sie die zwei Jungs auf der Bank erblicken. Diese stehen auch gleich auf, laufen auf die anderen zu und begrüßen sich alle gegenseitig mit einem sehr männlichen Handschlag. Während diesem Handschlag kommen die Muskeln von jedem einzelnen sehr gut zur Geltung und das scheint auch jeder einzelne von ihnen genau zu wissen. Wer weiß wie vielen Frauen sie damit schon den Verstand geraubt haben.
Ich bin ja auch der Typ Frau, der total auf breite, muskulöse Schultern, große Hände und vor allem auf muskulöse Arme steht. Da kann ich einfach nur dahinschmelzen, genau wie in diesem Moment.
Gott sei Dank kommt Daniel, der die Jungs in die Umkleide scheucht und mich somit auch vor meinen peinlichen Sabbern bewahrt.

Nachdem ich das Aufwärmen hinter mir habe, gehe ich zu meinen Boxhandschuhen, streife sie mir über und mache den Klettverschluss zu. Beim Training habe ich immer die mit dem Klettverschluss an, da es einfacher ist sie an- und auszuziehen. Diese sind auch vom Gewicht schwerer, gleich denen, die man im Wettkampf benutzt. Jedoch bevorzuge ich in Wettkämpfen meine altmodischen, die die noch Schnüre zum Binden besitzen. Dadurch sind sie zwar schwerer an- und auszuziehen, aber ein Manipulationsversuch kommt nicht in Betracht.
Ich springe auf derselben Stelle hoch und runter, lasse meine Schultern kreisen und gehe auf den großen schwarzen Boxsack zu. Davor angekommen, schlage ich meine Fäuste ein paar Mal aufeinander und nehme meine Boxposition ein.
Da ich Rechtshänderin bin, boxe ich in der Linksauslage. Das heißt, meine linke Hand und mein linkes Bein stehen näher zum Boxsack als meine rechte Hand und mein rechtes Bein.
Die linke Hand bezeichnet man als Führhand, da sie meist die schwächere Hand ist und nicht als Schlaghand eingesetzt wird, im Gegensatz zur Rechten.
Da ich schon ein Jahr nicht mehr am Boxsack trainiert habe, fange ich mit leichten Übungen wie dem Jab, zum Einstieg, an und gehe dann zum Haken über. Ich merke schnell, dass ich gut reinkomme und das motiviert mich so sehr, dass ich gleich mit meinen damaligen Workouts beginne.
Das bedeutet für mich am Anfang drei Mal drei Minuten lange Runden. In diesen drei ersten Runden sind ganz normale Schläge und Ausweichmanöver zu kombinieren und anzuwenden. Nach jeder Runde jeweils eine Minute Pause.
Im zweiten Teil des Workouts sind es vier Runden Power Boxen für eine Minute und wieder jeweils eine Minute Pause zwischen jeder Runde. Power Boxen heißt mit maximaler Kraft und maximalem Tempo zu boxen. Sehr oft Boxen
Im dritten und somit letzten Teil des Workouts werden fünf Runden für dreißig Sekunden Punch-out Drills gemacht. Das heißt Schläge in höchster Geschwindigkeit und ohne Pause. Hierbei nehme ich nur den geraden Schlag, um extreme Schwingungen des Boxsackes zu verhindern. Also Jab, abrupt geschlagene Gerade mit der Führhand, und Cross, abrupt geschlagene Gerade mit der Schlaghand. Diese immer wieder im Wechsel und nach jeder Runde eine Minute Pause.
In meinem Element total aufgegangen, merke ich wie mein Eifer bei den Punch-out Drills immer mehr wächst und ich in jeder Runde schneller werde. Es kommen mit jedem Schlag immer mehr Erinnerungen in mein Gedächtnis zurück. Diese Erinnerungen beinhalten Worte, Schläge und Tritte, alles was ich in die hinterste Ecke meines Gehirns mit jeden einzelnen Schlag verbannen will.

„Du kleine Schlampe!", Jab, „...du kannst nichts!", Cross, „Guck dich mal an...", Jab, „Du Hure!", Cross.
Jayden steht bedrohlich vor mir, Jab, spuckt mir vor die Füße, Cross, schlägt mir ins Gesicht, Jab, lacht ekelerregend, Cross, Jab, Cross, Jab, Cross, Jab, Cross ...

Diese Runde ging weit über dreißig Sekunden und ich denke auch nicht daran aufzuhören. Mein Puls rast unangenehm schnell und meine Arme tun von der Anstrengung weh, aber ich kann und will nicht aufhören meine Erinnerungen von mir zu boxen! Sie schmerzen einfach noch zu sehr und es scheint nie ein Ende zu haben, egal wie weit weg ich von Mancos bin.
„Ava?", ertönt eine Stimme, die aber nicht ganz zu mir durchdringen will, „Ava! Hör auf! So schadest du nur dir selbst!"
Die Schmerzen breiten sich mit jedem weiteren Schlag in meinem ganzen Körper aus, aber das ist nicht so schlimm wie der Schmerz in meiner Brust. Dieser Schmerz dort will einfach nicht aufhören!
„Sawyer! Jetzt ist Schluss!", holen mich Daniels Warnrufe endlich aus meinem Rausch.
Als ich mich nach Atem ringend und schweißgebadet umschaue, sehe ich viele irritierte Gesichter in der Boxhalle und ein besonders zorniges. Ich wische mir den Schweiß mit meinem Unterarm von meiner Stirn und versuche meine Gedanken zu sammeln.
„Was sollte das, Sawyer?!", brüllt mir mein Trainer ungeduldig entgegen. Wenn ich das mal selber wüsste, verdammt! Ich kann Daniel keine Antwort geben und schaue mit gesenktem Kopf wie ein kleines Kind auf den Boden vor mir.
„Wenn du deine Muskeln so überstrapazierst, wirst du ihnen nur schaden und ernsthafte Verletzungen davontragen. Aber sowas muss ich dir ja eigentlich nicht sagen!", kam es erneut wutentbrannt von ihm. Die Jungs verfolgen sehr gespannt die Szene, die sich ihnen gerade bietet.
„Ich weiß auch nicht was in mich gefahren ist, Daniel", erwidere ich beschämt, dabei den Blick immer noch auf den Boden gerichtet und schwer atmend, „Es wird nie wieder vorkommen". Meine Muskeln tun weh, weshalb ich meine Arme ein wenig hin und her schüttle, damit sie sich wieder etwas entspannen und sich lockern.
„Das will ich um deinetwillen auch hoffen!" Daniel kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm, um mir leise ins Ohr zu flüstern, „Mensch, Ava, du musst mit jemanden sprechen. Endlich loslassen. Denn so ein Verhalten wirft Fragen bei den anderen auf."
Als ich mich von Daniel entferne und meine Augen öffne, um durch die Menge zu schauen, fällt es auch mir auf. Scheiße, Daniel hat recht! Die gesamte Truppe ist mucksmäuschenstill und schaut uns gespannt an.
Meine Luft schnürt sich zu und ich bekomme Panik. Panik mich hier rechtfertigen zu müssen, denn ich bin noch total durch den Wind von den ganzen Erinnerungen, die mich gerade eingeholt haben. Mir fällt in diesem Moment noch nicht einmal eine einfache Lüge ein, um meinen Rausch von gerade plausibel zu erklären.
„Also ich bin hier um zu trainieren, nicht um andere dumm anzuglotzen und ihr?", ruft plötzlich der mit den breiten Schultern aus der Umkleidekabine von vorhin und schafft es so die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es scheint super zu funktionieren, denn die starre Menge löst sich auf und fängt an weiter zu trainieren.
„Mason, du bist heute Noahs Sparringspartner.", befahl Daniel, den mit den breiten Schultern. Dieser nickt nur und schaut mich wissend an. Scheinbar hat er bemerkt, dass ich in Panik und Erklärungsnot geraten bin. Also hat er mich bewusst aus dieser Situation herausgeholt? Verdutzt aber dennoch dankend, nicke ich ihm stumm zu und mache noch ein paar Entspannungsübungen, denn meine Muskeln schmerzen wirklich sehr.

Überarbeitet am 09.02.2019

Angel Kiss (Beendet) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt