Ich zucke zusammen und sehe mit großen Augen zu den Lianen. Für einen moment sehe ich mich in einer Schockstarre, bevor ich auf die Lianen zu gehe und eine Hand dadurch strecke. Die Rinde kratzt auf meiner Hand und ich sehe entschlossen meinen Arm entlang. "Ich hätte das zwar irgendwie anders gelöst, aber dank dir habe ich eine psychische belastung weniger und den Rest der Woche frei gekriegt." meine Stimme ist vielleicht nicht enthusiastisch oder fröhlich, aber auch nicht wütend oder traurig. "Ist... Ist das dein ernst?!" höre ich eine überraschte Stimme von der anderen seite und ich muss anfangen zu grinsen.
"Danke, wer auch immer du bist. Ich würde dich gerne umarmen, aber wir haben ja ausgemacht, dass wir nur die Hand hernehmen!" erwiedere ich und habe nicht die geringsten Schuldgefühle. Natürlich weiß ich, dass alle in Trauer sind. Die Familie, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Dennoch ist mir so eine große Last von den Schultern genommen worden, die ich schon durch die Routine fast nicht mehr gespürt habe. "Ich..." fängt er an und ich spüre, wie seine Hand sich um meine schließt. "Ich habe mit einer anderen Reaktion gerechnet! Wütend, Empört oder traurig!" meint er und ich schließe meine Augen, ehe ich mit meinem Daumen über die warme Hand streiche.
"Ich war selbst über mich überrascht. Ich habe keine Trauer, wut oder sonst irgendetwas. Alles was ich fühle, ist reine erleichterung!" erkläre ich und ein seufzen ertönt. "Mach deine Augen zu und ich könnte für einen moment darüber hinweg sehen, dass es nur die Hand ist..." brummt er und überrascht öffne ich die Augen. Ich erstarre, bevor ich das lächeln anfange und mich frage, ob ich jetzt eigentlich komplett den Verstand verloren habe. Dennoch atme ich tief durch, schließe meine Augen wieder und mache den ersten Schritt durch das Lianengestrüpp hindurch, um auf die andere Seite zu kommen.
"Mutig, mutig..." höre ich seine Stimme und ich grinse kurz, ehe ich von seiner Hand geführt, auf ihn zugehe. Meine Augen sind geschlossen und ich taste mich an seinem Arm hoch. Ich spüre einen Pullover, der ein wenig locker sitzt, da er Falten wirft. Als meine Hände weiter hoch gehen, erreiche ich den Hals und drei Dinge fallen mir auf. Es ist ein Kapuzenpulli, er hat lange Haare und diese Haare sind verdammt weich! Wortlos, lege ich meine Arme um seinen Hals und lehne mich an ihn. Er ist größer als ich und mein Kopf geht gerade mal bis zu seiner Brust.
"So viel mut in so einer kleinen Person!" meint er amüsiert und ich sehe ihn mit geschlossenen Augen an. "Sag noch einmal klein und ich bring dich sogar mit meinen geschlossenen Augen um!" Dann drehe ich meinen Kopf auf die seite. "Auch, wenn du ein wenig vorsprung hast." murmle ich und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. "Dann eben: Auf das beste reduziert!" erwiedert er und ich muss anfangen zu lachen. "Und du? Wenn ich hier grad mal deine Brust vor meiner Nase habe, bist du nicht der kleinste!" entgegne ich und spüre eine Hand auf meinem Kopf.
"Streng dein schlaues Köpfchen nicht zu sehr an, sondern konzentriere dich auf die wichtigen Dinge, klar kleine?" Mehr als ein Flüstern ist es nicht und ich fühle mich gleich wohler. Meine Arme lösen sich von seinem Hals und ich lege sie um seine Hüften. "Du bist mir wichtig... Ohne dich wäre ich schon längst durchgedreht und ich weiß nicht, wie es weiter mit Betti gelaufen wäre." Ich kuschle mich ein wenig an ihn. "Was habe ich nur angestellt, um dir über den Weg zu laufen..." Das letzte wollte ich eigentlich nur denken, aber irgendwie war mein Mund schneller als meine Synapsen.
"Musst beim Teufel wohl echt was verbockt haben!" erwiedert er lachend und etwas empört sehe ich zu ihm hoch. Und ja, sehen. Denn ich scheine wohl vergessen zu haben, dass ich eigentlich die Augen hätte geschlossen haben sollte. Mein Mund bleibt offen stehen und meine Augen weiten sich, als ich das Gesicht sehe. Mein gesamter Körper erstarrt. Aus einem Loch in der Decke strahlen einzelne Sonnenstrahlen und bringen seine langen schwarzen Haare zum glänzen. Die weiße Haut ist ein riesiger Kontrast dazu. Seine Augen sind überrascht geöffnet und zeigen so etwas wie Panik. Dunkle Ringe um die Augen, lassen sie noch düsterer wirken.
Doch was mich am meisten irritiert, ist sein Mund. Aufgeschlitzt, bis zu seinem Wangen hoch. So, als wolle er für immer lächeln. Was an sich nicht wirklich funktioniert, denn selbst jetzt sehe ich, wie seine Gesichtszüge entgleisen und sein Mund leicht geöffnet ist. Und hätte er noch richtige Mundwinkel, würden diese nach unten zeigen. Doch ich habe nicht wirklich Angst. Natürlich ist der Anblick gewöhnungsbedürftig. Andere würden sich wirklich erschrecken und wegrennen! Aber ich bin von haus aus geschädigt. Und nein, es liegt nicht an den umstrittenen Videospielen oder irgendwelchen Filmen, die ich nicht hätte ansehen oder spielen dürfen.
Ich lege den Kopf schief. "Das muss weh getan haben..." murmle ich und umarme ihn dann wieder. Drücke ihn an mich. "Wer hat dir das angetan?!" Ich runzle die Stirn, als ich merke, wie Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ist das jetzt erst die Trauer wegen Betti? Oder ist das wegen dem Kerl? "Welches Arschloch war es?" wiederhole ich die Frage und sehe dann wieder hoch. Seine Augen sind ungläubig auf mich gerichtet. Meine Nerven, die nun von den Anspannungen der letzten Jahre gereizt sind, sind nun wohl gerissen. Denn ich hebe meine Hände, lege sie an seine aufgeschlitzten Wangen und starre ihn sauer an.
"Ich frage nicht noch einmal. WER?!" Ein paar mal blinzelt er, bevor er die Stirn runzelt und verwirrter nicht sein könnte. "Du... hast keine Angst?" Ich verenge meine Augen zu schlitze. "Der einzige, der Angst haben sollte ist derjenige, der dir das angetan hat!" erwiedere ich leise und erst blickt er mich noch irritiert an, bevor er lacht und mich dann mit einer hochgezogenen Augenbraue ansieht. Meine Hände nimmt er von seinen Wangen und hält sie in seinen. "Ich werde dich enttäuschen müssen, kleine." meint er dann und schüttelt. "Ich habe keine Angst vor dir!"
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Another Life
FanfictionSera hat einen Freund, den sie noch nie zuvor gesehen hat. Dennoch weiß dieser alles über sie. Was sie in wirklichkeit macht. Wie sie Leute manipulieren kann. Und was wirklich hinter ihren Aktionen steckt. Die beiden treffen sich immer in einer Höhl...