Kapitel 22

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Kapitel 22

UNTERDESSEN

Ein bewegliches Bett wurde durch die hellen Gänge eines Gebäudes geschoben. Die blasse Gestalt, welche auf dem Bett lag, begann sich zu regen. Ärzte, die zuvor ratlos dagestanden hatten, brachten die Person in ein steriles Zimmer auf der Intensivstation. Eine Frau, die mitgelaufen war, hielt ein Taschentuch in der Hand und tupfte sich die Tränen von den Wangen, die ununterbrochen über das gealterte Gesicht liefen. Als sie das Zimmer erreichten, hielt jemand die Frau zurück.

«Sie dürfen nicht mitgehen», sprach eine Schwester mit sanfter Stimme und reichte ihr ein weiteres Tuch, das die Frau dankend annahm.

«Sie ist meine Tochter!», rief diese mit zittriger Stimme und riss sich von der Schwester los, um den Ärzten hinterher zu stürmen. «Ich kann sie nicht einfach allein lassen!»

Es wurde still, nachdem die Worte gefallen waren. Keiner sagte etwas. Man konnte die leisen Stimmen der Ärzte hören, die im Zimmer waren und versuchten die Frau am Leben zu erhalten, die sich vor kurzem zu bewegen schien.

«Sie können hier warten und einen Kaffee trinken gehen», begann die Krankenschwester mit einfühlsamer Stimme zu berichten. «Wenn die Ärzte fertig sind, werde ich Sie natürlich rufen, Frau Martens.»

Dies waren die letzten Worte, die sie ihr zugerufen hatte, als die junge Frau die Tür öffnete und im Zimmer verschwand. Seufzend und mit Tränen in den Augen, lief die gealterte Frau im Flur umher. Ihre Gedanken kreisten rund um ihre Tochter. Was war mit ihr? Würde sie doch sterben? Würde sie erwachen? Musste sie wieder ins künstliche Koma versetzt werden? Oder erwachte sie gar aus diesem?

In der Zwischenzeit nahm einer der Ärzte ein Kardioversionsgerät und schaltete es ein. Der Stromstoß fuhr in den Körper der jungen Frau, die einige Brandnarben davongetragen hatte. Die umstehenden Schwestern schauten auf die Geräte, die am Körper der jungen Frau angeschlossen waren.

«Ihre Werte werden stabil», rief die Schwester, die sich zuvor um deren Mutter gekümmert hatte. Schweigend nickte der Arzt und verpasste eine weitere Ladung, bis sich die Augen der jungen Frau zu öffnen begannen. Erleichtert ließ der Oberarzt das Gerät sinken und schaltete es aus. «Soll ich die Mutter rufen?»

Bevor der Arzt etwas sagen konnte, kamen unverständliche Worte aus dem Mund der Frau. Die Schwester stand an der Tür, hatte die Hand auf die kalte Klinke gelegt und schien auf ein Zeichen des Arztes zu warten. Doch dieser wandte sich an die erwachende Frau und sah fragend zu ihr herunter.

«Wen wollen Sie sprechen?», wollte er wissen und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie daran zu hindern, aufzustehen.

«Wo ist mein Freund?», kam es krächzend über ihre spröden Lippen. Sie versuchte sich aufzurichten, doch der stechende Schmerz ließ die junge Frau zusammenfahren. Ihr Mund öffnete sich, der Atem ging schneller, das Herz raste, die Geräte spielten verrückt. Die bislang guten Werte der Frau verschlechterten sich auf einen Schlag. Die Schwester eilte zu ihrem Chef und ließ die Tür verschlossen. Mit vereinten Kräften versuchten sie die Werte zu stabilisieren. Ob es ihnen gelingen würde? Würde die Frau erwachen? Würden sich die Werte verbessern? Oder musste sie wieder ins künstliche Koma versetzt werden?

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«Die Werte ihrer Tochter sind stabil», sprach ein Arzt, nachdem er das Zimmer verlassen hatte und auf die Mutter traf, die sich auf einen Stuhl gesetzt hatte und das Gesicht in den Händen vergrub. Als sie die frohe Botschaft erfuhr, sprang sie vom Stuhl und sah mit geröteten Augen zum Arzt, der sie mitfühlend anlächelte.

«Kann ich zu ihr?», wollte sie mit verweinter Stimme wissen und lief auf den Arzt zu, der einige Meter Abstand von der Zimmertür hielt und die ältere Frau mit seinen Augen musterte.

Der Mann seufzte. «Hat ihre Tochter einen Freund?»

Kaum merklich spannte sich der Körper der Frau an. «Nein, wieso fragen Sie?»

«Weil ihre Tochter einen Namen erwähnt hat», gab er knapp als Antwort und sah eindringlich zu ihr.

Diese zuckte mit den Schultern. «Welchen?»

«Wie meinen?», fragte er und lief einige Schritte auf die Frau zu, um ihr mitfühlend eine Hand auf den Arm zu legen.

«Wie der Name desjenigen war, den sie erwähnt hat!», schoss es aus ihrem Mund.

«Irgendetwas mit C», überlegte der Arzt. «Collin, Cliff, Conner... Nein, das war es nicht. Moment! Warten Sie. Ich hab's gleich. Ich glaube, dass er Cem hieß.»

Die ältere Frau sah mit offenem Mund zum Arzt, der nickte und auf die Tür deutete. Wie benebelt schüttelte sie ihren Kopf. Leise, unverständliche Worte verließen ihren Mund. Besorgt sah der Arzt zu ihr hoch, doch sie wehrte sich vehement gegen seinen Griff. Seine Hand schob sie von ihrem Arm, drehte sich um und lief mit schnellen Schritten davon. Sie konnte in diesem Zustand nicht zu ihrer Tochter. Nicht, wenn diese sich an ihn zu erinnern schien. Nicht, wenn sie ihn noch immer liebte. Denn wegen ihm war der verdammte Unfall doch passiert! Er hätte besser aufpassen müssen! Er hätte sich nicht ablenken lassen sollen! Er hätte sie aus dem Frack retten sollen! Doch was tat dieses nichtsnutzige Biest? Anstatt sie zu befreien, lief er davon und rettete sein eigenes Leben, das ihm wohl wichtiger war, als das seiner Freundin! Wie konnte sie es anstellen, dass sie nicht mehr von ihm redete? Sollte sie ihn zu ihr lassen? Sollte er sehen, wie schlecht es ihr ging? Nein!

Wenn aus Liebe Hass wirdWo Geschichten leben. Entdecke jetzt