Abschied

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Sienna wurde in einen Raum geführt der größer war, als eine gesamte Etage des Kinderheims, in dem sie lebte. In diesem Raum haben sich die weiblichen Tribute seit Jahrzehnten von ihren Angehörigen verabschiedet, und für die meisten waren es die letzten Momente die sie in Distrikt 7 verbracht hatten. Bei diesem Gedanken zog sich ein Schauer über Siennas Rücken und sie verspürte nichts als Unbehagen, dieser Raum war mit so vielen Schicksalen so vieler Familien verbunden. Und nun sollte sie sich in diese Reihe einordnen und hier ihre Familie verabschieden.

Siennas einzige Angehörige waren ihre kleinen Geschwister, von denen keines über 6 Jahre alt ist. Ihre Mutter starb bei der Geburt der Drillinge vor drei Jahren, und ein Jahr darauf starb ihr Vater bei einem Unfall im Sägewerk und riss auch ihn aus ihrem Leben. Seitdem lebten die Kinder im Gemeindeheim, wo alle elternlosen Kinder unter 18 hinmussten.

Mit 18 Jahren durften Kinder aus dem Heim dann alleine leben und müssen für sich selbst sorgen. Sienna war 17. Nur noch ein Jahr hätte sie verschont bleiben müssen,  dann hätten sie und ihre Geschwister endlich das Gemeindeheim verlassen können. Jetzt war dies fast unmöglich, außer sie würde gewinnen. Draußen auf dem Gang waren plötzlich Schritte zu hören und sie beschloss für ihre Geschwister so zu tun als wäre alles normal, um sie so gut es ging beschützen zu können. Die Türe flog auf und ihre Geschwister stürmten herein, "Ihr habt 10 Minuten", brummte der Friedenswächter gutmütig und zwinkerte Sienna zu, fast so als wolle er ihr verbotener-weise Glück wünschen. 

"Sienna? Wieso musst du weggehen?" lispelte Siennas vierjähriger Bruder, keines ihrer Geschwister war alt genug um wirklich zu verstehen was hier vor sich ging, aber sie spürten dennoch, dass etwas anders war als sonst und waren sich bewusst, dass es nichts gutes bedeuten konnte. "Mein Süßer, komm mal her!", Sie streckte ihre Arme nach ihm aus und er warf sich in ihre Umarmung. "Jetzt erkläre ich dir mal was. Also ich bin nur kurz weg, gar nicht lange, weil ich einen besonderen Auftrag hab. Du wirst es gar nicht merken dass ich weg bin, so schnell werde ich wieder da sein ok? Und du, mein Großer, musst währenddessen ganz fest auf die anderen aufpassen, ja? Verstehst du mich? Egal was passiert, pass immer auf deine Schwestern auf. Und weisst du was?", Sienna drückte ihren kleinen Bruder ganz fest an sich, und flüsterte in sein Ohr:" Wenn ich zurückkomme bin ich schon fast alt genug um aus dem Heim zu kommen und dann können wir alle in ein eigenes Haus ziehen!".Stolz nickte er und wand sich dann aus ihrer Umarmung um mit den anderen zu spielen. Sienna konnte nicht anders als ihren kleinen Geschwistern beim spielen zuzusehen und wollte sich nicht von ihnen verabschieden. Denn das sollte kein Abschied sein, zumindest nicht für lange.

Denn Sienna Deer würde die Hungerspiele gewinnen, koste es was es wolle, aber sie würde die Spiele gewinnen und zu ihren Geschwistern zurückkehren. Nach fast 10 Minuten kam der Friedenswächter zurück und gab ihr mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass es Zeit war sich zu verabschieden und er nichts dagegen tun konnte. Sienna drückte ihre Geschwister ganz fest an sich und flüsterte jedem ins Ohr, dass sie nie vergessen sollen wie sehr sie sie lieb hat. Dann fiel die Türe hinter den Kindern zu, und plötzlich hatte Sienna es unendlich schwer diese starke Fassade aufrecht zu erhalten. Sie konnte doch ihre kleinen Geschwister nicht einfach so hier lassen? Im Gemeindeheim, wo jetzt keine große Schwester mehr dafür sorgte, dass sie von den anderen Kindern nicht gehänselt wurden oder die ihnen ihr Essen gab wenn sie noch hungrig waren. Sie sank auf das Sofa und starrte den Teppich an, auf dem ihre Geschwister noch vor ein paar Sekunden gespielt hatten. 

"Sienna?", tönte eine zarte Stimme von der Türe her, sie hatte gar nicht bemerkt dass die Türe noch einmal aufgegangen war, sosehr war sie in Erinnerungen versunken. In der Türe stand Kayla, ihre beste Freundin seit sie denken konnte. Ohne weiter Zeit zu verlieren überwanden sie beide gleichzeitig die paar Meter die sie trennten und die beiden Mädchen fielen sich in die Arme. Sienna konnte sich danach nicht mehr erinnern über was sie gesprochen hatten. Oder ob sie überhaupt Worte gewechselt haben oder sich nur umarmten. Auch wenn sie mit aller Kraft versuchte nach vorne zu blicken und auch für sich selbst stark zu sein, so stand sie dennoch unter Schock.

Viel zu früh kam der Friedenswächter wieder herein, diesmal war es ein anderer als zuvor, der Kayla einfach grob mit sich riss und die Türe hinter sich zuknallte. Die beiden Mädchen hatten kaum noch Zeit Lebewohl zu sagen. Einige Zeit lange öffnete sich die massive Eichentüre nicht und Siennas' Laune sank noch tiefer, falls dies überhaupt möglich war... hatte Andrew, ihr bester Freund, sie wirklich vergessen? Er hatte ihr sonst immer bei allem geholfen, ohne ihn wäre sie nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern und der Verantwortung als ältestes Kind nicht zurechtgekommen. Er hatte sie getröstet und ihr neuen Mut zugesprochen, selbst wenn sie einfach keinen Sinn im Leben mehr gesehen hatte und am liebsten in ihrem Zimmer im Gemeindeheim versteckt geblieben wäre. Andrew konnte sie immer wieder aus ihrem Versteck locken und ihre Laune aufheitern. Sienna nannte Andrew auch ihren 'Mutmacher' und das einzige das sie sich im Moment mehr wünschte als nicht in die Hungerspiele zu müssen war Mut. Tränen schossen ihr in die sonst so strahlenden grünen Augen, und sie kehrte der Türe den Rücken zu, denn sie wollte die Friedenswächter nicht sehen wenn sie hereinkamen um sie zu holen. Und noch weniger wollte sie, dass die Friedenswächter ihre Tränen sahen. Doch es kamen keine Tränen, sie konnte wegen eines doofen Jungen doch nicht einfach ihre Siegerhaltung aufgeben?! "Nein! Sienna du musst jetzt stark bleiben und nur noch nach vorne schauen!" sprach sie sich selbst Mut zu  und fuhr sich mit der Hand durch ihre langen braun gelockten Haare. Gerade als sie die Hoffnung aufgegeben hatte ihn jemals wieder zusehen stand er im Raum. 

Zuerst sah sie ihn nur in seiner Reflexion im Glas, aber dann drehte sie sich um und warf sich, genau so wie ihr Bruder zuvor in ihre, in seine tröstenden, vertrauten Arme. Jetzt da dies vielleicht ihre letzte Begegnung ist fiel Sienna wieder ein wie sie sich vor knapp 10 Jahren kennengelernt hatten.


Die 67. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt