45. Teil - Roter Lippenstift (Prolog)

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- - - - - FALLS IHR DEN PROLOG NICHT VOR KURZEM GELESEN HABT, RATE ICH EUCH DAZU, DENN SONST WIRD ES AB HIER FÜR EUCH KEINEN SINN MEHR ERGEBEN - - - - - -


- 10. Juni 2016 -

Mit rasendem Puls sah ich zu meinem Gegenüberstehenden, welcher mein Aussehen und meine Mimik mit seinen mandelförmigen Augen genauestens analysierte. Von meinen nackten Schultern bis hin zu meinen rotgefärbten Zehen. Wir standen mitten im Hochzeitssaal, welcher an lauten Menschen und viel zu kitschiger Dekoration kaum zu überbieten war. Orientalische Rhythmen dröhnten spürbar unangenehm aus den vielen Lautsprechern um uns herum.

Das letzte mal, als ich diesen blauäugigen Mann gesehen hatte, war knapp drei Jahre her. Drei Jahre welche sich lang anhörten und in diesem Moment doch so kurz anfühlten. Ein Zeitraum in welchem ich mich veränderte. Dazu zählten definitiv nicht nur meine verbesserten Englischkenntnisse und meine nun kaum bis zu den Schultern reichenden Haare, welche aus dem mattschwarzen ins karamellbraune gewechselt waren. Dazu zählte so viel mehr. Ich hatte für mich an Wert gewonnen - für mein eigenes Selbstwertgefühl. Für mein eigenes, neues Ich. Für dieses lang erwartete Aufeinandertreffen.

,,Also hat sich dein Leben - wirklich - in jeglicher Hinsicht verbessert?", fragte der zynische Mann mit purem Spott als begleitender Unterton. Ich ließ mich davon jedoch nicht irritieren. Alte Manieren, welche ich längst schon auswendig kannte. Das oben aufgeknöpfte, weiße Hemd mit dem kleinen eingestickten teuren Logo auf der Brust, klebte förmlich an seinem definiertem Oberkörper. Die Ärmel waren auf eine legere Weise bis zu seinen Ellenbogen hochgekrempelt. Abwartend wippte er mit einem Whiskeyglas in der Hand herum und beobachtete meine Reaktion wie einen durchschnittlichen Film. Trug er diese trübe Monotonie mit Absicht in seinem Gesicht? Sein Körper hatte sich meinem bis auf einen Schritt Entfernung genährt. So genährt, dass ich sein bekanntes Parfüm riechen konnte. Wurde ihm dieser herbe Geruch denn nicht allmählich langweilig? Denn für mich war es das. Seine Gesichtszüge wirkten noch markanter als zuvor, und der dunkle, kurze Bart wirkte sich mit ungewöhnlicher Reife auf seine Ausstrahlung aus, ohne ihn als alt abzustempeln. Ja, er reifte anscheinend wie Wein -verdammter Wein, welcher mit seinem fortschreitenden Alter immer besser auf der ZUnge schmeckte. Doch es war armselig - armselig genug, nicht weiteres als ein gutes Aussehen als Qualitätsmerkmal zu besitzen. Ich wusste nicht welche Reaktion dieser Mann von mir erwartete. Welche Emotion er sich auf meinem Gesicht erhoffte -aber das, was ich tat, wirkte weit von seinen Erwartungen entfernt. Denn ich näherte mich ihm mit einem gefährlichen Lächeln an und strich mit meinem Atem über sein Ohr.

,,Ich würde dir raten, auf der Toilette diesen geschmacklosen Fleck auszuwaschen, denn als verantwortungsvoller Trauzeuge schickt es sich nicht, billigen Lippenstift auf dem Hemdkragen mit sich herum zu tragen."

Ich hatte mich nach meinem deutlichen Ratschlag wieder elegant zurückgezogen und merkte wie ein merkwürdiger Schleier von Irritation auf dem Gesicht meines Gegenüberstehenden Platz fand. Triumphierend wollte ich mich abwenden, doch ich brach diesen Vorgang im letzten Moment ab, um noch einmal in das einprägsame Gesicht des blauäugigen Teufels zu sehen. Tiefblaue Augen, welche in mir keine schönen Erinnerungen weckten. Augen welche plötzlich genauso aussahen, wie herkömmliche Augen dieser Art von Pigmentierung.

,,Ach, mein Fehler. Es gehört sich nicht, schöne Fragen zu missachten. Ja, du hast richtig verstanden. In meinem Leben sind tolle Dinge passiert. Und ich würde es für nichts mehr eintauschen." Mehr als zufrieden grinste ich Tarik an und merkte, wie mein erneuter Rückzugsplan scheiterte. Denn zwischen dem ganzen beengenden Hochzeitstumult, zog mich der feste Handgriff von Tarik zurück an meinen Ausgangspunkt. Ein besitzergreifender Handgriff, welcher mich für einen kurzen Moment an einige tiefverdrängten Momente zurückdenken ließ. Aber nur für einen kurzen Moment. Ich verlieh meinem Blick keine Anzeichen von Verwunderung oder Angespanntheit. Nein. Nicht mehr. Ich starrte lediglich kalt auf diesen festen Handgriff, welcher sich nach und nach befremdlicher anfühlte.

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