Kapitel 1:
Elijah
Ich kann es kaum erwarten. In ein paar Stunden fliegen mein Dad und ich in den Urlaub. Nach so langer Zeit, kann ich endlich wieder etwas Zeit mit ihm verbringen. Das freut mich sehr. Allerdings sitze ich immer noch an meinem Platz hier im Klassenraum. Neben mir sitzt Hanna, meine beste Freundin. Wir haben vor ungefähr zwanzig Minuten schon unsere Zeugnisse bekommen und warten nur noch, bis es klingelt. Die letzten Minuten, die vergehen müssen, sind mit Abstand die schlimmsten.
Noch fünf, vier, drei, zwei, eins... Dann klingelt es ohrenbetäubend und alle springen auf und schnappen sich ihre Rucksäcke oder Handtaschen. „Schöne Ferien“, wünscht uns unsere Klassenlehrerin, beim Verlassen des Raumes.
„Endlich“, kommt es erleichtert aus mir heraus und folge Hanna aus dem Schulgebäude. Auch wenn ich erst seit etwas über einem Jahr auf dieser Schule gehe, war es dennoch ein packendes Schuljahr. „So schlimm war es doch gar nicht Elijah“, antwortet sie und lacht auf. „Schöne Ferien dir“, wünschen mir ein paar meiner Klassenkameraden, beim vorbei gehen. „Euch auch“, rufe ich ihnen hinterher und kann es nicht ganz fassen, Ferien zu haben. Als ich damals hierherzog, hatte ich nicht gedacht, jemals einen so guten Anschluss zu finden. Meine Freunde, mit Ausnahme meiner Cousine Claire und einer weiteren Person, wohnen alle in meiner alten Heimat, welche nicht einfach so um die Ecke liegt. Deswegen bin ich froh, hier jemanden zu haben, den ich mag und mit der ich mich verstehe.
„Kommst du noch mit zu mir?“, fragt mich Hanna auf dem Heimweg. Ich nicke. „Gern. Mein Dad holt mich dann von dir ab“, antworte ich. „Super. Du freust dich, habe ich recht?“ „Ja. Sehr sogar“, sag ich und muss grinsen. „Wie lange wart ihr beide nicht mehr zusammen im Urlaub, wenn ich fragen darf?“, möchte sie wissen. „Zu lange...“, kann ich nur sagen und schaue auf den Boden. Hannah bleibt abrupt stehen und zieht mich in eine Umarmung. „Ich kann verstehen, dass dich das immer noch traurig macht. Aber das ist Vergangenheit Elijah. Dein Dad hat endlich Zeit für dich und darauf solltest du dich konzentrieren. Verstehst du?“ Wieder nicke ich. „Du hast recht. Danke. Ich habe mich nur daran erinnert, wie er die letzte Zeit kaum da war. Das hat mich einfach wieder runtergezogen“, gebe ich zu. „Das ist nicht gut“, sagt sie und hat damit vollkommen Recht. „Ich weiß.. Tut mir leid.“ „Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Ich werde dich jetzt ein bisschen ablenken, bis dein Dad da ist“, meint sie und ich merke, dass wir schon vor ihrer Haustür sind. „Und wie?“, will ich wissen. „Wir kochen!“
Und es klappte. Hanna hat es geschafft, mich auf andere Gedanken zu bringen. Das kann sie echt gut. Sie ist so ein toller Mensch. Ich bin froh, sie kennengelernt zu haben. Wir haben mein Lieblingsessen gemacht. Spagetti Bolognese. Es hat sogar sehr lecker geschmeckt. „Ich werde dich vermissen, wenn ich im Urlaub bin“, sag ich und helfe ihr beim Abräumen. „Und ich dich erst. Aber wir können ja abends immer ein bisschen telefonieren Elijah“, schlägt sie vor. „Gerne. Das sollte bestimmt klappen. Ich schick dir auch eine Postkarte“, versichere ich ihr. „Du bist süß“, und schaut mich an. „Ausnahmsweise. Ihr fliegt auch in den Urlaub oder?“ „Genau. In 14 Tagen, um genau zu sein.“ „Und wohin noch mal?“ Irgendwann werde ich auch mal mit ihr zusammen in den Urlaub fliegen. Das wollten wir schon immer mal machen. „In die Türkei. Wir treffen uns dort mit meiner Tante, die Schwester meiner Mum“, erklärt sie. „Das wird bestimmt auch schön.“ „Ich freue mich schon. Dann sehe ich endlich meine Cousine wieder.“
Wir redeten noch weiter, bis es dann an der Haustür klingelt. „Das muss Dad sein. Ich mach schon auf“, rufe ich und gehe in den Flur. „Hey Dad“, sag ich sofort beim Öffnen der Tür. „Hallo Elijah“, bekomme ich als Antwort von einer Person, mit der ich so gar nicht gerechnet habe. „Tante Jenni? Was machst du hier? Wo ist Dad?“, frag ich gleich nach. Meine Tante Jennifer Kyle, die Schwester meiner Mum steht mit ihrem schwarzen Audi vor Hannas Haus. Ich sehe, wie sie sich wieder herausgeputzt hat. Das heißt, dass sie entweder gerade erst von der Arbeit kommt und daher noch keine Möglichkeit hatte, die Schminke, welche sie täglich auf ihr Gesicht aufträgt, abmachen konnte oder, dass sie eines ihrer Meetings hatte. Früher hasste ich ihr Aussehen, da sie dort meiner Meinung nach wie eine Prostituierte aussah. Aber mittlerweile, finde ich sie echt hübsch, wenn man das als Neffe so sagen kann. Ihr schwarzes Kleid passt perfekt zu ihrem lockigen, braunen Haar. Sie hat sich ihren Weg bis zur Leiterin des Jugendamtes selbst erarbeitet.
Bestimmt wartet Dad auch einfach nur Zuhause auf mich. Immerhin muss ich noch packen, da ich gestern Abend keine Lust mehr dazu hatte. Und so wie ich ihn kenne, geht es ihm bestimmt nicht anders. Diese Sache habe ich wohl von ihm geerbt. Genau. So muss es sein und deswegen hat er Jennifer geschickt, um mich abzuholen. Vielleicht sollte ich nicht immer gleich vom schlimmsten ausgehen, wenn meine Tante, statt meines Dads vor mir steht. „Einen Moment“, sag ich schnell zu ihr und gehe zurück ins Haus.
„Das ist aber nicht dein Dad“, höre ich Hanna sagen, die im Flur steht. „Er wartet bestimmt nur Zuhause“, und zucke mit den Schultern. „Schreib mir, wenn was ist Elijah“, bittet sie und drückt mich. „Mach ich. Du auch“, verspreche ich ihr. „Klar.“ Schweren Herzens löse ich mich wieder aus der Umarmung, nehme meinen Rucksack und verlasse das Haus. Anschließend gehe ich zu meiner Tante und deute ihr an, dass wir loskönnen.
„Wo ist Dad?“, frag ich sie, als ich einsteige und mich daran erinnere, dass er mich eigentlich heute abholen wollte. „Er konnte nicht“, antwortet sie und ich ahne schon, was als Nächstes kommt. „Na wo musste er denn jetzt schon wieder so schnell hin?“ Wenn es so dringend ist, dass er es noch nicht mal schafft, seinen Sohn nach seinem letzten Schultag abzuholen.“ Ich merke, wie meine Laune sich von Sekunde zu Sekunde verschlechtert. „Er musste kurzfristig ins Ausland fliegen. Nach Australien. Ich weiß, du bist jetzt sauer, aber es war wirklich nicht so geplant Elijah“, antwortet sie und wir fahren los. „Mhm… Okay…“, kann ich darauf nur antworten.
„Und was muss er dort so Wichtiges machen?“ Dabei lege ich besonderen Wert darauf, dass wichtiges, richtig betont wird. „Ein Geschäftspartner deines Dads wurde nach Australien gebeten, da dieser dort ein neues Gebäude bauen will“, erklärt sie mir während der Fahrt, was meine Laune auch nicht besser macht. „Er bat mich darum, dass ich solange auf dich aufpassen“, redet sie weiter. „Aber du musst doch Arbeiten und hast nicht wirklich viel Zeit für mich“, argumentiere ich und wünsche mir in Gedanken, dass wir eine andere Lösung finden, denn das letzte was ich will ist, meine Sommerferien mit meiner langweiligen Tante zu verbringen. Mit meinen Freunden kann ich mich auch nicht treffen, weil die alle in den Urlaub fliegen und ich das eigentlich auch mit meinem Dad vorhatte. „Du hast recht, aber willst du lieber ins Heim, für die sechs Wochen? Rein und raus bringen kann ich dich. Das wäre kein Problem“, erklärt sie und ich starre nach vorne.
Hat sie das gerade ernst gemeint? Ich denke angespannt über diesen Vorschlag nach. Wie kommt sie nur darauf, dass ich freiwillig in eine Einrichtung gehen würde? Doch dann fällt mir wieder ein, dass Claire dort auch wohnt. Also ist die Idee doch gar nicht so hirnrissig.
„Elijah! Träumst du schon wieder?“, reißt sie mich aus meinen Gedanken, als wir in unsere Einfahrt fahren. Das Haus hat mein Dad entworfen, ganz nach seinen Wünschen. Es war schon da, bevor ich geboren wurde. Zumindest hat er es immer gesagt. Ich liebes dieses Haus so sehr. Darin stecken viele Erinnerungen.
„Tut mir leid… Ich war nur in meinen Gedanken vertieft“, gebe ich zu und kann wieder schmunzeln. „Das habe ich gemerkt hab. Hast du dir denn jetzt schon was überlegt?“, fragt sie mich und betreten das Haus. „Meine Cousine ist doch hier ganz in der Nähe in einer Einrichtung… Ich würde dort gerne hin. Vorausgesetzt, das geht in Ordnung.“ Das ich das wirklich sage, hätte ich nie gedacht. Ich habe Claire dort schon oft besucht und auch mal heimlich in ihrem Zimmer übernachtet, aber da zu wohnen, hielt ich nie für möglich. Zumal ich hier meine eigenen vier Wände habe und ganz zufrieden damit bin.
Auf ihren mit Lippenstift nachgezogenen Lippen bildet sich ein erfreutes Lächeln. „Ich denke schon. Ein Freund von mir hat dort heute Dienst. Es müsste für ihn kein Problem sein, dich dort aufzunehmen“, sagt sie und ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ein Freund? Wenn es die Person ist, an die ich gerade denke, dass weiß ich, wer dieser Freund ist. Und ganz sicher nicht nur ein Freund. „Super, dass hört sich gut an. Ich würde dann jetzt hoch gehen und packen.“ Ohne dass sie auch nur ein Wort sagen kann, bin ich auch schon in meinem Zimmer verschwunden.
Oben angekommen merke ich erst, dass ich gar nicht weiß, was ich eigentlich einpacken soll. Ich hole meine große Reisetasche von Kleiderschrank und stopfe eine Menge schlichte einfarbige T-Shirt, Hoodies, Unterwäsche aber auch Hosen hinein. Meinen Laptop packe ich ebenfalls ein, nur das dieser nicht zu den Klamotten kommt, sondern in meinen Rucksack. Auch wenn mein Dad mich enttäuscht hat, kennt er mich dennoch und hat mir einen Karton mit den verschiedensten Süßigkeiten aufs Bett gestellt. Ich kann nicht anders, als mir fünf Tüten von den Gummibärchen einzupacken und zwei für meine Cousine, in ihrer Lieblingssorte. Genau die, welche ich total verabscheue. Zum Schluss packe ich meine Badesachen ein, wo ich hoffe, dass ich die Gelegenheit bekomme, schwimmen gehen zu können.
Als ich dann mein Handy aus der Ladestation ziehe, bemerke ich, dass mir zwei Anrufe entgangen sind. Beide von Stella. Sie ist eine gute Freundin von mir. Wir kennen sie schon seit dem Kindergarten. Ich war mal mit ihr zusammen, aber das war die schlimmste Beziehung meines Lebens. Es war schrecklich. Sie hat mich regelmäßig zu Sachen gezwungen, auf die ich lieber verzichtet hätte, aber mit der Hilfe von meinen Freunden, konnte ich das alles so gut es geht hinter mir lassen und Stella ist auch wieder die Alte. Manchmal vermisse ich ihren Zitronengeschmack beim Küssen, aber es ist besser, wenn wir nicht zusammen sind. Sie wollte sich noch bei mir verabschieden, da sie morgen nach Griechenland fliegt. Ohne zu zögern rufe ich zurück und sogar schon nach dem zweiten klingeln nimmt sie ab.
„Hi Elijah“, sagt sie ins Telefon, nachdem sie abgenommen hat. „Störe ich dich gerade beim Packen? Du hast angerufen“, frag ich gleich, als aller erstes nach. „Nein alles gut. Ich habe versucht dich zu erreichen, aber du bist nicht ran gegangen“, antwortet Stella und ich merke die leichte Traurigkeit in ihrer Stimme. „Tut mir leid, aber es ist gerade etwa stressig bei mir.“ „Oh, warum? Ist was passiert?“ Sofort ändert sich ihre Traurigkeit in Neugier. „Du kennst doch mein Dad... Er hat spontan ein Auftrag rein bekommen, musste deswegen ins Ausland und da ich kein Bock habe, dass meine langweilige Tante Jennifer auf mich aufpasst, habe ich beschlossen, zu Claire in die Einrichtung zu ziehen“, versuche ich informationsreich zusammenzufassen mit der Hoffnung, dass sie nicht so viele Fragen stellt.
„Scheiße. Tut mir echt leid für dich. Ich weiß ja, wie du dich auf den Urlaub mit ihm gefreut hast. Das wissen wir alle. Willst du nicht vielleicht mit mir mitkommen? Du weißt, dass mein Dad nichts dagegen hätte Elijah“, versucht sie mich zu trösten. Ich weiß ganz genau was passieren würde, wenn ich zusage und mit ihr nach Griechenland fliege. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Stella versuchen würde, sich wieder an mich ran zu machen, da sie mir einfach nicht widerstehen kann. Das habe ich immer oft genug gemerkt. Zum Beispiel, als wir schwimmen waren und sie regelrecht nicht damit aufhören konnte, ihre tief blau-grauen Augen von meinem halbwegs trainierten Oberkörper zu lassen. Da tauchen sofort die Bilder vor meinen inneren Augen auf, wo sie und ich Sex im Wasser hatten.
„Nein Stella“, fange ich an mit meiner Erklärung. „Du weißt, was damals passiert ist. Ich kann das nicht einfach vergessen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass wir Freunde sind“, versuche ich ihr klar zu machen und spüre, wie ich wütend werde. „I...Ich… Ich weiß. T...Tut mir leid. Ich würde dich aber trotzdem gerne sehen, bevor wir morgen fliegen.“ So sauer ich auch gerade wieder auf sie bin, kann ich das auf Dauer einfach nicht halten. Ich kann auf dieses Mädchen nicht sauer sein. Das konnte ich noch nie und auch bei anderen ist das so. Es geht einfach nicht. Diesen Teil habe ich wahrscheinlich von meiner Mum geerbt. „Wir können uns vielleicht heute Abend sehen. Ist das in Ordnung für dich?“, schlage ich stattdessen vor. „Ja, sehr Elijah. Danke. Du kannst mir einfach schreiben, wenn du soweit bist. Bestell Claire schöne Grüße von mir.“ „Kann ich machen. Wir sehen uns später. Ich muss jetzt“, beende ich das Gespräch und merke am Ende, wie sehr sie sich freut. Ich bin erleichtert, als das Telefonat vorbei ist.
Ich verstaue mein Handy in meiner Jogginghose, nehme mein Gepäck und gehe die Treppe hinunter in den Flur, um dann in die offene Küche zu gelangen, wo auch schon meine Tante wartet. „Da bist du ja“, sagt sie zu mir, als ich den Raum betrete. „Tut mir leid. Hat etwas gedauert. Können wir jetzt los?“, bitte ich sie in dem freundlichsten Ton, den ich über mein gespieltes Lächeln bringen kann und merke, wie meine schlechte Laune immer noch da ist. „Elijah!“, kommt es ihr in einer ernsten Tonlage über die Lippen. Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihr um. „Das du auf deinen Dad wütend bist, kann ich zu 100 Prozent nachvollziehen. Denn das bin ich auch. Aber sei es nicht auf mich. Ich kann nämlich nichts dafür. Verstanden?“ Ich nicke nur und folge ihr nach draußen. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Jennifer hat recht. Ich habe kein Recht auf sie sauer zu sein und eigentlich muss ich zugeben, dass sie gar nicht so langweilig ist, wie ich immer sage. Sie kann sogar ganz witzig sein, wenn sie will.
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Elijah, Kira und das Geheimnis der Mitbewohner
Novela JuvenilDer 16 jährige Elijah Black kommt, aufgrund der Arbeit seines Vaters, zu Beginn der Sommerferien in eine Kinder und Jugendeinrichtung. In den ersten zwei Tagen lernt er dort den gleichaltrigen Jannes, der später sein bester Freund wird, kennen, sowi...