Seitdem mir Lin von Siljans dunkler Vergangenheit erzählt hatte, sah ich ihn aus anderen Augen.
Und auch wenn es keine Rechtfertigung oder ein Freifahrtschein für sein verachtenswertes Verhalten gab, so erwischte ich mich zunehmend dabei, wie ich Verständnis und Mitgefühl für ihn zu hegen begann.
Denn wenn ich ehrlich mit mir selbst war, so hätte ich an seiner Stelle nicht viel anders gehandelt.
Ich liebte meine Familie abgöttisch auch wenn ich von zuhause geflohen war und wegen ihnen jahrelang in Isolation gelebt hatte.
Mit dem nun zwischen uns liegenden Abstand begann mein rationaler Verstand zu erkennen, das sie stets im Glauben gehandelt hatten, nur das Beste für mich zu tun.
Erschöpft strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Der Tag neigte sich mittlerweile dem Ende und ich war nicht weiter sonderlich produktiv nach meinem Gespräch mit Lin gewesen.
Die Arbeit im Krankenhaus, Christins Auftritt und die anschließende Achterbahnfahrt der Gefühle als ich meinen Seelenverwandten besucht hatte, hatten mich ausgelaugt.
Die Unterhaltung mit der Brünetten schließlich gab mir schließlich den Rest.
Mittlerweile lag ich ausgestreckt auf meinem Bett und beobachtete schläfrig wie die letzten Strahlen der untergehende Sonne auf der Wasseroberfläche des Fjordes tanzten.
Meine Lieder wurden stetig schwerer und ohne dagegen anzukämpfen triftete ich langsam ins Traumland ab.
Mein Schlaf war unruhig.
Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet mit rasenden Herz auf und saß mehrere Minuten senkrecht im Bett, ehe mein Puls sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Da ich noch zu aufgewühlt war um weiter schlafen zu können, rollte ich mich aus dem Bett und schlug schlurfend den Weg in die Küche ein.
Es sprach schließlich nichts gegen einen Mitternachtssnack.
Dank meiner geschärften Sinne schaffte ich es trotz der alles umhüllenden Dunkelheit, ohne Lärm oder einen Unfall zu verursachen, zu meinem Ziel.
Zufrieden mit mir selbst öffnete ich den Kühlschrank und starrte für einige Minuten einfach nur dem grellen Licht entgegen.
Ein Akt purer Entspannung.
Die kühle Luft prallte auf mein Gesicht und war mehr als nur angenehm.
Schließlich griff ich aber doch nach der Milchpackung, um weitern sinnlosen Stromverbrauch ein Ende zu bereiten und um das Haltbarkeitsdatum der leicht vergänglichen Lebensmitteln nicht weiter unnötig zu strapazieren.
Mit der anderen Hand schlug ich die Kühlschranktür wieder zu und war gerade in Gedanken dabei mich zwischen den verfügbaren Müslisorten zu entscheiden, die Fruit Loops waren mein bisheriger Favorit, als mich ein Paar glühender Augen aus der nun wieder herrschenden Dunkelheit anstarrte.
Vor Schreck stieß ich einen leisen, quiekenden Laut aus, ehe ich mein Gegenüber erkannte.
„Pirsch dich nicht so an mich heran, Njal“, knurre ich, verärgert darüber mich derartig vor ihm erschrocken zu haben.
„Ich kann nichts dafür, dass deine Wahrnehmung so eingeschränkt ist“, erklärt mir der Brünette mit gerunzelter Stirn und folgt mir zum Esstisch.
Immernoch aufgewühlt ziehe ich mir einen Stuhl zurück und bereite mir, ohne ihn weiter zu beachten, mein Müsli zu.
Nach einer Weile des Schweigens, wird mir sein bohrender Blick unangenehm.
„Fruit Loops?“, frage ich ihn schließlich zögerlich und halte ihm die bunte Packung unter die Nase, deren süßlicher Geruch mir das Wasser im Mund zusammen laufen lässt.
Überrumpelt starrt Njal mich an.
„Ne lass mal, das Zeug kannst du alleine essen“, lehnt er verwirrt ab, offenbar nicht an meinem Lieblingsmüsli interessiert.
„Wenn du es nicht willst, warum bist du dann noch hier?“, harke ich jetzt ebenfalls verwirrt nach.
Es musste offensichtlich einen anderen Grund für seine Anwesenheit geben, als sich mitten in der Nacht mit mir den Bauch voll ungesunder Leckereien vollzuschlagen zu wollen.
„ Ich wollte mit dir sprechen“, entgegnet mir der Brünette.
Plötzlich ist er seltsam angespannt und rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
„Siljan hat mir gegenüber erwähnt das der Patient aus Raum 46 aufgewacht ist?“, bricht es schließlich aus ihm heraus.
Mein Herz macht einen Satz.
Er sprach von Arn, verdammt.
Offenbar hatte mir Siljan meine Lüge nicht abgekauft, das war schlecht.
„Ja er war kurz wach“, räume ich zähneknirschend ein.
„Aber es war nur sehr kurz und wirklich ansprechbar war er auch nicht“, füge ich seufzend hinzu.
Njal zieht ihm fahlen Mondlicht die Augenbrauen zusammen und studiert kritisch mein Gesicht.
„Es war deine Aufgabe sofort Bescheid zu geben, wenn sich etwas an seinem Zustand ändert. Du solltest sie in Zukunft besser ernster nehmen“, der Hauch einer Drohung schwingt in seinen Worten mit.
Ich recke mein Kinn in die Luft.
„Er ist noch nicht bereit um verhört zu werden“, entgegne ich ihm mit Nachdruck.
„Also hatte Siljan Recht, du scheinst ihn wirklich etwas zu sehr ins Herz geschlossen zu haben“, erkennt der Brünette und seine Augen glühen eine Spur dunkler.
„Ich werde trotzdem der erste sein, der mit ihm redet, sollte er erneut aufwachen, verstanden?“.
Njal scheint keine Widerworte zu dulden.
Es scheint ihm sogar verdammt ernst zu sein.
„Ich werde dich sofort informieren“, seufze ich und gebe mich gespielt geschlagen.
Natürlich werde ich ihm nicht sofort Bescheid geben.
Sein plötzliches Interesse an meinem besten Freund ist sogar eher ein Grund zur Sorge für mich.
Erneut spielt mein Gedächtnis seine seltsame Reaktion auf Arns Anblick im Krankenhauszimmer ab.
Irgendetwas an dieser Erinnerung verwirrt mich, es schien schließlich fast so, als hätte ich wiedererkennen in den Augen des Betas aufblitzen sehen.
„Das hoffe ich wirklich für dich“, grollt Njal während er lautlos aufsteht.
Bevor er mit den uns umgebenden Schatten verschmilzt, gibt er mir einen Klaps auf den Hinterkopf.
Empört protestierend drehe ich mich um, doch er ist längst verschwunden.
Als ich mich endlich wieder meinem Müsli zuwenden kann, ist es zu einer einzigen aufgeweichten Paste mutiert.
Missmutig würge ich grübelnd die letzten, nun nicht mehr ganz so schmackhaften, Loops hinunter, ehe ich in mein Zimmer zurückkehre.
Als ich endlich Schlaf finde, sind meine Träume verworren und bevölkert von Njals und Arns Gesichtern.
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Saoirse
Werewolf♤ Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben. ~Nelson Mandela ...