Mühsam rinne ich meine Besorgnis nieder.
Ich hatte jetzt keine Zeit mehr um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.
Das nächste Ereignis, ein erneutes Treffen mit meinem Seelenverwanden, stand mir unausweichlich bevor.
Kurz überlege ich es weiter aufzuschieben und es solange wie möglich hinauszuzögern, verwerfe diese Idee aber schnell wieder.
Der letzte Besuch bei Siljan hatte schließlich darin geendet, das ich mehrere Tage in einem dunklen Raum vor mich hin vegetierte und das, obwohl ich damals pünktlich gewesen war.
Folglich wollte ich mir gar nicht ausmalen was passieren würde, wenn ich der Aufforderung „unverzüglich“, nicht unverzüglich nachkam.
Missmutig stoße ich mich von der Wand in meinem Rücken ab, ehe ich den blitzblanken Flur durchquere und das Krankenhaus durch seine mechanischen Schiebetüren verlasse.
Draußen war es stürmisch.
Die Natur war zu einem Spiegel meiner Gefühlswelt geworden.
Graue Wolkenberge türmten sich über meinem Kopf hinweg auf und trieben die letzten weißen Schäfchenwolken unerbittlich vor sich her.
Der leichte Nieselregen lag aufgrund der starken Windböen fast schräg in der Luft und peitscht mir die Haare in das Gesicht.
Ein grimmiges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich dem, nun schlammigen, Trampelpfad am Rande des Dorfes einschlage.
Der Matsch fliegt durch meinen schnellen Marsch auf meinen bis dato blütenreinen Krankenhauskittel, doch es stört mich nicht.
In den Unebenheiten des Weges vor mir hatte sich Wasser gesammelt und aus einem urplötzlichen, inneren Drängen heraus, stoße ich mich von der Erde ab und lande mit beiden Beinen in der Pfütze.
Für einen Moment halte ich inne.
Mein Herz macht einen Satz und voller neugewonner Lebensfreude, springe ich von einem Wasserkreis zum Nächsten.
Kalte Tropfen spritzen durch die Luft und treffen mich zusammen mit dem Regen am ganzen Körper.
Binnen Sekunden sind meine Klamotten voll Wasser gesogen und ich selbst bin bis auf die Haut durchnässt.
Ein Kichern verlässt meine Kehle und ich wende mein Angesicht dem Himmel zu.
Mein Kopf ist für den Moment frei von Sorgen und Ängsten.
Lachend strecke ich die Arme aus und fange an mich zu drehen.
Einer, nur in meinem Kopf existierenden, Melodie folgend, fange ich an zu tanzen.
Das Gefühl der Schwerelosigkeit nimmt mich ein und die Umwelt verschwimmt vor meinen Augen.
Es existiert nur dieses prickelnde Gefühl von Leben in mir.
„Was machst du da? Willst du dich erkälten und dir den Tod holen?!“, donnert urplötzlich eine Stimme vor mir aus dem Nichts und erdet mich wieder.Ein Seufzen entweicht meinen Lippen und ich neige meinen Kopf nach vorne, um mein Gegenüber anzusehen.
Siljan hat sich vor mir aufgebaut, auch er ist völlig durchnässt und hat seine muskulösen Arme vor der Brust verschränkt.
Sein einst dunkelblaues T-shirt klebt schwarz an seinem Oberkörper und lässt die darunter verborgenen Bauchmuskeln erahnen.
“Ich lerne im Regen zu tanzen, soll ich es dir beibringen?“, biete ich ihm versonnen lächelnd an.
Trotz seiner Anwesenheit befinde ich mich noch in einem fast schon meditativen Zustand der Ruhe und des inneren Gleichgewichts.
Der Blonde legt ungläubig die Stirn in Falten, offenbar hält er mich nun für vollkommen verrückt.
Das ich meinen Seelenverwandten durch etwas so simples so sprachlos mache, entlockt mir ein weiteres kichern und ich tänzle grinsend auf den Norweger zu.
Dieser weicht einen Schritt zurück und scheint mehr als nur ratlos zu sein.
„Christin meinte, das du mir reden wolltest?“, erkundige ich mich, während ich an ihm vorbei in Richtung seines Hauses schreite.
Bei näherer Betrachtung meiner direkten Umwelt, war mir das dunkelgrau angestrichene Holzhaus immerhin sofort ins Auge gestochen.
Erinnerungen an meinen letzten Besuch blitzen vor meinem inneren Augen auf, doch ich ignoriere sie.
Als ich die moderne silberne Metalltür erreiche, halte ich an und drehe ich mich in einer eleganten 180° Drehung Siljan zu.
Dieser steht immer noch wie festgewachsen an der selben Stelle und starrt mich durch den immer stärker werdenden Regen ungläubig an.
„Was machst du da? Willst du dich erkälten und dir den Tod holen?“, zitiere ich ihn amüsiert und vollführe eine aufforderndes Kopfnicken Richtung Tür.
Der Alpha wirft mir noch einen letzten schrägen Seitenblick zu, setzt sich dann aber letztendlich langsam in Bewegung und geht an mir vorbei.
Im Augenwinkel bemerke ich, das er die Luft anzuhalten in meiner direkten Nähe anzuhalten scheint und für einen Moment konzentriert die Augen zusammen kneift.
Doch er ist nicht der einzige, der in der Gegenwart des Anderen mit sich zu kämpfen hat.
Meine wölfische Seite will meinen momentan herrschenden Seelenfrieden stören und versucht krampfhaft an die Oberfläche zu gelangen.
Anders als vorhin im Krankenhaus gelingt es ihr trotz größter Anstrengung jedoch nicht.
Fehler sind schließlich da um aus ihnen zu lernen.
Und das habe ich.
Unter keinen Umständen werde ich noch einmal meine Maske fallen lassen.
Mit einem unterschwelligen Knurren stößt Siljan die Metalltür auf und entflieht in das Innere des Hauses und somit auch aus meiner direkten Nähe.
Mit ihm geht sein, zugegeben köstlicher, Geruch nach Wald, frischen Regen und Aftershave.
Ich folge dieser Duftnote und lasse wie beim ersten Mal auch meine braunen Lederstiefel an den Füßen.
Wir durchqueren schweigend den Flur.
Alles ist genauso wie ich es in Erinnerung habe.
Ich überfliege im vorüber gehen kurz die sporadischen Dekorationselemente, deren Anzahl sich nicht vergrößert zu haben scheint.
Auch den Wohnbereich mit seiner einladenden Ledergarnitur und der modernen Bar lassen wir hinter uns, denn Siljan steuert auf eine massive, vom Wohnbereich nach rechts wegführende, Ebenholztür zu.
Ein poliertes, silbernen Schild, das etwa auf Augenhöhe hängt verkündigt den geschwungenen Schriftzug „Büro“.
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Saoirse
Lobisomem♤ Als ich aus der Zelle durch die Tür in Richtung Freiheit ging, wusste ich, dass ich meine Verbitterung und meinen Hass zurücklassen musste, oder ich würde mein Leben lang gefangen bleiben. ~Nelson Mandela ...