Kapitel 37

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„Vor ungefähr zwei Jahren war Siljan mit seinem Vater, dem damaligen Alpha unseres Rudels, auf Grenzpatrouille“, beginnt Linnea mit mechanischer Stimme.

„Anfangs schien alles normal zu sein und somit wollten sich die beiden gerade wieder auf den Rückweg machen, als sie auf die Spuren von Menschen in unserem Territorium stießen“, setzt die Brünette ihre Erzählung fort.

“Es ist nicht ungewöhnlich, das sich ein Wanderer mal in das Reservat verirrt, doch meistens stellen sie keine große Bedrohung dar und wagen sich auch nicht tiefer in den Wald vor. Diesmal war es jedoch anders. Die Spuren gehörten Wilderern, die illegal auf das Gebiet eingedrungen waren…“, sie machte eine kurze Pause.

„Offensichtlich waren sie eine Gefahr für unser Rudel, also wollten Siljan und unser ehemaliger Alpha in ihrer Wolfsgestalt, die Menschen vertreiben. Sie übersahen dabei allerdings einen der Jäger, der sich von hinten an sie anpirschte. Als Siljan ihn schließlich entdecke war es schon zu spät...“, ihre Stimme zitterte und brach bei ihren nächsten Worten gänzlich.

„Ein Schuss fiel und verletzte den Alpha schwer.

Da sich der Kampf unmittelbar an der Grenze zum Territorium des Ostrudels zutrug, wurde auch deren Patrouille auf das Geschehen aufmerksam. Die eintreffenden Krieger mischten sich jedoch nicht in das Gefecht ein. Damit war Siljan ganz auf sich alleine gestellt. Blind vor Wut und getrieben von der Angst um seinen Vater stürzte er sich auf die Wilderer und brachte einen nach dem anderen um. Das waren die ersten Morde, die er beging.“, ergänzte die Brünette ihre Erzählung.

„Als er damit fertig war und zu seinem Vater eilte, war dieser schon halb bewusstlos von seinem hohen Blutverlust. Siljan wandte sich verzweifelt an die Krieger des Nachbarruddels und flehte diese um Hilfe und Unterstützung an, doch er wurde von ihnen abgewiesen.

Er war noch ein Teenager als sein Vater in seinen Armen starb. Allerdings sollte das nicht die einzige geliebte Person sein, die er an diesem Tag verlieren würde. Seine Mutter, die Luna des Rudels und somit auch die Seelenverwandte des ehemaligen Alphas, starb nur Minuten nach dem Verlust ihrer Seelenhälfte“, Lin schluchzte leise und wischte sich mit zitternder Hand die Tränen aus den Augen.

Anschließend setzte sie mit erstickter Stimme ihre Geschichte fort.

„ Seine Eltern auf diese Art und Weise zu verlieren veränderte ihn. Von einem auf den anderen Tag musste Siljan erwachsen werden. Er übernahm die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister und auch für das gesamte Nordrudel, als er sein Geburtsrecht auf die Position des Alphas antrat. Der gutmütige, stets zu Späßen aufgelegte und liebevolle Junge wich einem kalten, tiefverletzten und zunehmend tyrannischer werdenden Mann“.

Bei ihren Worten verkrampfte sich mein Herz und auch ich bemerke, wie meine Sicht verschwimmt.

„Nachdem er zum Anführer des Rudels aufgestiegen war, ordnete er vom Kummer und Hass getrieben einen blutigen Feldzug gegen das Ostrudel an. Zwar waren es die Menschen gewesen, durch deren Hand sein Vater gestorben war, jedoch hatte das Nachbarrudel tatenlos dabei zugesehen und trug dadurch in seinen Augen eine Mitschuld am Tod des Alphas. Siljan bezwang die dort lebenden Werwölfe, versklavte sie oder ermordete grausam diejenigen, die sich ihm in den Weg stellten. Er richtete ein Blutbad an.“

In diesem Moment war ich dankbar dafür zu sitzen, denn anderweitig hätten mir ihre Worte den Boden unter den Füßen weggezogen.

„In den nächsten Wochen und Monaten war Siljan stets jähzornig und unberechenbar.
Er gab sich selbst die Schuld für den Tod seines Vaters und litt unter Selbstzweifeln. Er zog sich zurück und isolierte sich. In seinen Augen war es seine Schwäche, die zu diesem tragischen Ende geführt hatte. Wenn er nur Sekunden früher auf den weitern Jäger aufmerksam geworden wäre, so würde sein Vater vielleicht noch leben. Natürlich war das alles nicht wahr, aber er hörte weder auf mich noch auf Njal. An dem Tag habe ich meinen besten Freund verloren.“, fügt Lin hinzu, ihr Gesicht ist gezeichnet von Trauer.

„Nach gut einem Jahr ging es langsam wieder Berg auf. Siljans Launen wechselten nicht mehr so stark und er wurde ruhiger und berechenbarer. Auch wenn ihn der Verlust für ewig zeichnen würde, machte er weiter und lies gelegentlich sogar gute Charakterzüge von früher durchscheinen.“, ein leichtes Lächeln hebt die Mundwinkel der Brünetten an und sie drückt kurz meinen Arm.

Ich hänge immernoch wie gebannt an ihren Lippen.

„Als du, ein Mensch, dann allerdings vor einigen Wochen bei uns aufgetaucht bist, wurde Siljan von Flashbacks heimgesucht und an die Vergangenheit erinnert. Seinen Hass auf die Menschen konzentrierte er nur auf dich und ließ dich dafür leiden, auch wenn du komplett unschuldig bist. Er verdammte das Schicksal für seine Grausamkeit, ihn mit dir als seine Seelenverwandte zu bestrafen. Als erstes war er fest davon überzeugt dich ablehnen zu wollen“, zögernd verlassen diese Worte ihren Mund und sie achtet genau auf meine Reaktion.

Ich würge den Kloß in meinem Hals hinunter, ehe ich zu einer Antwort ansetzte, “Warum hat er seine Meinung geändert?“

„Vermutlich weil er, als der erste Schock verflogen war, erkannt hat, das es ihn zerstören würde. Endgültig. Einen weiteren Verlust zu erleiden würde ihn dahinraffen und seine jüngeren Geschwister ebenso. Siljan ist schließlich das einzige, was die beiden noch haben.“, grübelt Lin.

„Nachdem er dich hat wegsperren lassen und der Meinung war, das Problem hätte sich damit in Luft aufgelöst, bin ich explodiert und habe ihm aber auch ziemlich deutlich die Folgen aufgezeigt, die seine Ablehnung und Ignoranz mit sich ziehen würden.“, fügt die sie verlegen hinzu.

Abwesend nickt ich leicht mit dem Kopf.

Ich war also tatsächlich nicht die einzige gewesen, die unsere Seelenverwandtschaft boykottieren wollte.

SaoirseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt