Kapitel 60

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Schreiend hatte ich argumentiert.
Schreiend hatte ich versucht die Diskussion zu gewinnen.
Schreiend hatte ich meinen Schmerz gezeigt.

Schreiend hatte ich Schmerzen erlitten.

Schreiend.

Bis ich irgendwann verstummt war.
Dann war es leise.
Dann hörte man nicht mehr meine Schreie.
Meine Angst.
Angst vor den Schmerzen.
Nein, dann hatte man nur noch meinen Atem gehört.
Meinen verzweifelten Atem.
Meinen schmerzvollen Atem.

Meine verzweifelten, schmerzvollen Schreie waren fort.
Hatten mich verlassen.
Wollten nicht mehr wiederkommen.
Hatten mich allein gelassen. In dieser großen Welt.
In dieser gefährlichen Welt.
In der Welt meiner Mutter.

Schreie. Meine Schreie.
Sie waren fort.
Hatten die letzte Möglichkeit meine Schmerzen zu zeigen mit sich genommen.
Hatten mich wieder verstummt.
Hatten mich stumm weinen lassen.
Hatten mich stumm schreien lassen.
Hatten mich stumm leiden lassen.

Stumm.
Das waren meine Schreie nun.
Das waren meine Schmerzen nun.

Lautlos.
Das waren meine Tränen nun.
Das war mein Schluchzen nun.

Schmerzhaft.
Das war die Stille nun.

Fort.
Das waren meine Schreie nun.

Wie sollten meine Schreie je wiederkehren?
Wie sollten meine Schreie meine Emotionen zeigen, wenn sie doch fort waren?
Wie sollten meine Schreie nicht von Schmerz erfüllt sein?
Wie?

,,Sag's mir. Wie?", flüsterte ich in die Stille hinein. Unterbrach somit mein Schweigen. Mein schmerzvolles Schweigen.

,,Wie? Wie nur?", hauchte ich.

,,Wann sollen meine Schreie wieder erklingen? Wann sollen meine Schreie wieder meine Emotionen widerspiegeln? Sag mir, wann?", wisperte ich.

Hoffnungslos sank ich auf die Knie.
Schmerzerfüllt versuchte ich zu schreien. Erfolglos. Anstatt eines Schreies brachte ich einzig ein kleines Ächzen hervor. Einen kleinen Huster.

Tränen strömten meine Wange hinunter. Ließen meine Sicht verschwimmen. Zeigten meinen Schmerz.
Zeigten meine Trauer.

Ich war zu schwach, um zu schreien. Die Welt anzuschreien, gelang mir nicht. Dafür war ich zu kraftlos.

All das wegen Ariana.

Ariana. Zu gern würde ich jetzt in ihren Armen liegen und ihrer Stimme zuhören.

****************

,,Willst du zu ihr?", hatte mein Vater mich gefragt.

,,Ja." Wieder nur ein Hauchen.

Er öffnete mir die Tür. Ließ mich hinein. Nach mir schloss er die Tür wieder. Nun waren nur noch Ariana und ich im Raum.
Ich wollte sie nicht sehen. Wollte nicht sehen wie sie in dem Bett lag. Wie sie an tausenden von Kabeln angeschlossen war. Wie leichenblass ihre Haut war. Wie sie in sich gefallen war. Wie ihre Lippen ausgetrocknet waren. Wie ihre Augen geschlossen waren.

Wollte all das nicht sehen. Konnte es nicht.

Und doch blickte ich auf. Ging auf ihr Bett zu und setzte mich auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand. Langsam wanderte meine Hand zu ihrer. Wie von selbst umschloss ich ihre Hand.
Das gab mir Mut.
Kraft.

,,Ich vermisse dich." Und wie ich das tat.

,,Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützt habe. Wäre ich früher gekommen, als sie dich geschlagen hat, dann wärst du jetzt garnicht hier. Dann würdest du jetzt nicht im künstlichen Koma liegen. Dann... es tut mir leid. So verdammt leid."

Ich redete, sprach mit ihr, obwohl sie mich nicht hören konnte. Obwohl sie mir nicht antworten konnte.

,,Übermorgen ist Weihnachten. Ich hab dich garnicht gefragt, was du dir wünschst. Tut mir leid." Schuldbewusst sank ich meinen Kopf.
Ich hatte garnicht daran gedacht.
Ariana schon.
Ariana hatte mich gefragt.
Warum also ich nicht auch?
Weil ich zu beschäftigt war. Mit meinen Problemen. Ich hatte Ariana total verdrängt. Hatte ihr Wohlbefinden total verdrängt.

,,Was wünschst du dir?" Ich erwartete keine Antwort. Ich hatte sie gefragt, weil Freunde das tun. Ich musste es tun. Meinem Gewissen gegenüber musste ich es tun.

Ich schwieg. Tat so, als ob ich ihre Antwort hören würde. Als ob sie mir geantwortet hätte.

,,Mal schauen, ob dein Wunsch erfüllt wird." Ich wusste noch immer nicht, was sie sich wünschte. Konnte nur raten.

,,Du hast mich letztens gefragt, was ich mir wünsche. Willst du die Antwort hören?" Meine Augen waren mit Tränen gefüllt. Zeigten meinen Schmerz.
Zeigten meine Sehnsucht nach Ariana.
Nach meiner Freundin.

,,Ich wünsche mir, dass all das vorbei ist. Dass wir lachend im Schnee tanzen. Dass wir... zusammen sind und uns keine Gedanken mehr um den Krieg machen müssen." Ich drückte ihre Hand und legte meinen Kopf auf ihrem Bett ab.

,,Das ist mein Wunsch. Du bist mein Wunsch."

*****************

,,Ihr verzeihen?"

,,Ja." Wütend schaute ich meinen Vater an. War so wütend, sodass ich zitterte und meine Stimme bebte.

,,Ich soll ihr verzeihen?!" Meine Augen funkelten regelrecht.

,,Bitte."

,,Ich... ich soll ihr verzeihen, dass meine Freundin wegen ihr im Koma liegt? Ich soll ihr verzeihen, dass sie Ariana fast zu Tode geprügelt hat?! Du willst, dass ich ihr das verzeihe?! Du willst, dass ich ihr das Unverzeibare verzeihe? Das kann nicht dein Ernst sein! Das darf nicht dein Ernst sein!"

Schweigend verweilte sein Blick einige Sekunden auf mir. Ich hingegen atmete laut. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.

Das durfte nicht sein Ernst sein!

,,Ich... ich meine es ernst."

,,Hast...hast du was getrunken oder so?" Meine Stimme wurde keinesfalls einfühlsamer. Nein, sie wurde schriller. Lauter. Unerträglich laut.

,,Nein. Nein, ich habe nichts getrunken, Aylin. Ich will einfach nur, dass das jetzt aufhört. Du verlangst zu viel von mir! Ja, ich habe eingestimmt, aber das reicht dann auch! Ich meine, sie ist immernoch meine Frau, und ja, ja ich liebe sie noch immer! Ich kann dich absolut verstehen, aber sag einfach, dass alles okay ist. Egal, ob es das nun ist, oder nicht. Okay? Okay."

Entsetzt schaute ich ihn an. Die Wut, die ich gerade noch überall gespürt hatte, war verschwunden. Stattdessen spürte ich überall Schock. Ich verstand ihn nicht.

Wie kam er auf die Idee, dass ich ihr verzeihen sollte?
Wie konnte er mich darum bitten?
Wie brachte er es über das Herz, sowas zu sagen?
Wie konnte er sagen, dass er mich verstehen würde, obwohl er es nicht tat?
Ist ihm sowas schonmal passiert, sodass er das Recht hätte, so etwas auch nur ansatzweise sagen zu können?
Nein, das ist es eben nicht!
Ihm ist es eben nicht passiert!
Wie konnte er also?

,,Nein, nichts ist okay. Absolut garnichts! Es ist zwar hart, aber ich muss es sagen: Du liebst ein Monster. Jemanden, der dich nicht liebt. Du liebst jemanden, der bereit wäre, dich umzubringen. Verstehst du es?
Du willst jemanden beschützen, für jemanden da sein, den es nicht mehr gibt. Deine Königin ist fort. Sie wird nicht mehr kommen! Warum also willst du, dass ich ihr verzeihe, wenn sie Unverzeihliches getan hat?
Ich verstehe es nicht!" Ich wusste, dass das hart war, aber es musste mal gesagt werden.

Er blieb stumm. Antwortete nicht. Ging nicht auf meinen Wutausbruch ein. Nein, er verschwand stattdessen aus dem Raum und ließ mich zurück.

Ließ eine Königin zurück, die ihre Kräfte nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Die ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Prinzessin der ElementeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt