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Lya

In den fünf Monaten auf der Straße hatte ich gelernt, wie ich agieren musste, um den bestmöglichen "Gewinn" zu erzielen. Für die meisten Menschen war es unerträglich, eine schwangere Frau betteln zu sehen. Also hatte ich mir irgendwann ein Block und Stifte gekauft und zeichnete die Dinge um mich herum darauf. Wenn ich damit fertig war, riss ich die Seite heraus und legte diese auf den Boden. Daneben stand ein Becher. Leute konnten sich ein Bild nehmen und im Gegenzug etwas Kleingeld in den Becher werfen. Die meisten warfen aber einfach so Geld hinein und nach einem halben Tag hatte ich bereits 30 Dollar zusammen. Heute waren die Menschen sehr spendabel.

Manchmal blieben einige stehen und sahen mir einfach zu. Einige gaben mir Geld, andere gingen irgendwann weiter. Es gab aber auch die Art von Menschen, welche Stur geradeaus sahen und so taten, als würde keine Schwangere auf dem Boden sitzen. Ich hatte gelernt, auch diese kalte Art der Menschen zu akzeptieren. Immerhin war ich mit dieser aufgewachsen.

Bevor meine Schwester geboren wurde, war ich der Liebling meines Vaters und er erfüllte mir jeden Wunsch. Doch alles änderte sich, als Lindsay geboren wurde. Sie war krank und brauchte eine Bluttransfusion. Am besten von mir, ihrer Schwester. Doch bei den Untersuchungen kam heraus, dass ich eine andere Blutgruppe als meine Eltern oder meine Schwester hatte. Meine Mutter gab zu, meinen Vater betrogen zu haben und seitdem war mein Leben die Hölle. Nur meine Großeltern standen zu mir. Doch Grandpa starb vor einigen Jahren und zu Grandma hatte ich seit Monaten keinen Kontakt mehr.

Ich dachte damals, dass Earl mir aus diesem Strudel aus Hass heraus helfen könnte. Aber schnell nach unserer Hochzeit hatte er sein wahres Gesicht gezeigt. Er wurde abweisend und verbot mir meiner Arbeit nachzugehen. Eine Kindergärtnerin würde vor seinen Geschäftspartnern kein gutes Bild abgeben.

Ich schüttelte meine dunklen Gedanken ab. Ich wollte für meine Tochter ein besseres Leben, als jenes, welches ich geführt hatte. Jeder, den ich einst geliebt hatte, hatte mich aufgegeben. Ich lebte nicht auf der Straße, weil ich es wollte. Aber die meisten Menschen verstanden das nicht. Sie sollte es besser haben. Sie sollte geliebt werden, egal was für ein Schwein ihr Vater war. Aber noch wichtiger war, dass sie nicht auf den Straßen New Jerseys aufwachsen sollte.

Ein seltsames Gefühl überkam mich und ich konnte förmlich spüren, dass ich beobachtet wurde. Ich hob meinen Kopf und suchte nach der Person, dessen Augen auf mich gerichtet waren. Lange musste ich mich nicht umsehen und ich erkannte den gut aussehenden Fremden, mit welchem ich heute bereits zusammengestoßen war. Er stand an einen Wagen gelehnt, vermutlich sein eigener, und sah mich an.

Ich bekam Angst und packte meine Sachen zusammen. Nachdem ich alles in meinen Rucksack verstaut hatte bemerkte ich, wie er auf mich zukam. So schnell ich konnte, schulterte ich meinen Rucksack und lief, so gut es mein Bauch zuließ, die Straße herunter. Keine Ahnung wer dieser Mann war, aber es machte mir Angst, wie er mich ansah. Vielleicht war er Polizist oder arbeitete für die Kinderfürsorge. Ich wollte nicht mit irgendwelchen offiziellen Stellen in Berührung kommen. Vielleicht war er hier, um mich in Gewahrsam zu nehmen und mir später mein Kind wegzunehmen. Das würde ich nicht zulassen.

Schwanger sein und rennen passte nicht ganz zusammen und mir ging relativ schnell die Puste aus. Ich versteckte mich hinter einer Hauswand und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Ich atmete tief ein und aus und wartete darauf, dass mein Körper sich wieder beruhigte, damit ich mehr Distanz zwischen mich und dem Fremden bringen könnte.

„Warum rennst du weg?"

Ich hob meinen Kopf und sah dem Fremden direkt ins Gesicht. „Wer bist du?", fragte ich und griff in meiner Jackentasche nach dem kleinen Taschenmesser, mit welchem ich mich verteidigen würde.

„Ich will dir nicht wehtun, sondern helfen", erklärte er.

„Helfen? Wer sagt, dass ich Hilfe brauche?"

„Ich bin heute früh in dich gelaufen und du saßt bis eben an der Straße und hast versucht deine Zeichnungen zu verkaufen. Offensichtlich bist du obdachlos."

„Abgesehen davon, dass ich noch immer nicht weiß, wer du bist. Wie kommst du darauf, dass ich obdachlos bin? Vielleicht habe ich einfach keinen Job und versuche mir dadurch etwas zu verdienen."

Der Fremde lächelte mich an. „Komm. Ich lade dich zum Essen ein und dabei werde ich dir alles erklären."

Perplex sah ich ihn an. Er wirkte nicht wie ein Kidnapper oder ein Vergewaltiger, aber vielleicht war das seine Masche. Kriminelle könnten sich auch in Anzüge kleiden, um ihre Opfer anzulocken. „Bist du kriminell oder ein Cop?"

„Ich schwöre, bei dem Leben meiner Mutter: Ich werde dich weder verletzen, noch einsperren. Alles, was ich möchte, ist dir zu helfen."

Wir waren noch immer in der Öffentlichkeit und, für den Fall, dass er log, würde es ihm schwerfallen, mich zu entführen. „In Ordnung, ein Essen", willigte ich ein. „Aber ich habe ein Taschenmesser und wenn du irgendetwas Falsches versuchst, schneide ich dich damit."

„In Ordnung." Er lachte erneut und kam weiter auf mich zu. „Ich nehme dir jetzt den Rucksack ab. Du solltest nicht so schwer heben." Er nahm mir meinen Rucksack ab und schulterte diesen, als ob er nichts wiegen würde. Dann ging er voraus.

Es musste an den Hormonen liegen, aber ich fand ihn plötzlich sympathisch. Noch nie hatte ein Mann mir meine Tasche abgenommen. Doch die Sympathie schob ich schnell wieder beiseite, während ich meinem "Helfer" folgte.

„Wenn du kein Cop bist, bist du dann von der Kinderfürsorge?", fragte ich, während er vor mir lief.

„Nein, bin ich nicht. Ich erkläre dir alles beim Essen." Seine Stimme hatte eine angenehme Tonlage.

Während ich ihm nachlief, blickte er immer wieder hinter sich, um sicherzugehen, dass ich ihm noch folgte. Mir war bewusst, dass ich nicht einfach so weglaufen konnte. Er trug meinen Rucksack und in diesem befand sich der Schlüssel für mein Schließfach. Ich würde nicht mehr an meine persönlichen Dinge kommen und das angesparte Geld wäre auch weg. Mein Fussel würde in weniger als vier Monaten auf die Welt kommen und ich konnte es mir nicht leisten, noch einmal von vorne anzufangen. Das gesparte Geld reichte so schon kaum aus.

Ich war im Augenblick von dem Mann abhängig, welchen ich vor nicht einmal fünf Minuten kennengelernt hatte. Hoffentlich würde sich das nicht als Fehler herausstellen.

UnbreakableWo Geschichten leben. Entdecke jetzt