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Lya

Emma half mir meine Beutel, Tüten und Taschen in mein Appartement zu tragen. Wir hatten so viel Zeit vertrödelt, dass wir mittlerweile ganz schön in Eile waren und wir meine Sachen nur schnell in die Wohnung stellten. Danach machten wir uns sofort auf den Weg ins oberste Stockwerk des Gebäudes. Hier oben gab es eine Art Meetingraum, in welchem sich die Frauen einmal die Woche trafen. Es erinnerte mich in gewisser Weise an eine Therapie. Man tauschte sich gegenseitig aus und half sich bei Problemen.

„Heute ist es eine reine Vorstellungsrunde. Ihr sollt euch erstmal miteinander bekannt machen. Einige von ihnen sind bereits einige Monate hier. Andere hingegen erst ein paar Wochen", erklärte mir Emma auf unserem Weg nach oben. „Es ist immer unterschiedlich. Einige kommen schnell auf die Beine, während andere länger brauchen. Aber es ist stets harmonisch, was schon fast seltsam ist bei so vielen Frauen."

Wenn ich behauptet hätte, ich wäre nicht aufgeregt, wäre es gelogen gewesen. Ich würde in wenigen Minuten sechs Frauen kennenlernen und hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Wie würden sie auf mich reagieren? Ich hatte nie so etwas wie Freundinnen. Ich war zu schüchtern dafür. Das lag wohl daran, dass ich von meinen Eltern immer klein gehalten wurde. Ich durfte nie eine Klassenkameradin mit nach Hause bringen. Niemand sollte erfahren, wer meine Eltern oder meine Schwester waren. Mit Lindsay war es anders. Sie hatte immer Freunde da, doch ich durfte mein Zimmer in solchen Momenten nicht verlassen.

„Mach dir keine Sorgen." Emma schien meine Anspannung zu spüren. „Es wird alles gut. Sie tun dir nichts."

Ich stand vor der Tür, hinter der sich die anderen befanden und atmete tief durch. Fussel gab mir einen Tritt und ich legte meine Hand auf die Stelle meines Bauches. „Willst du die anderen so dringend kennenlernen?" Ich sah auf meinen Bauch, während ich mit ihr sprach und zur Bestätigung meiner Frage gab sie mir erneut einen Tritt. Ich lächelte und strich noch einmal über meinen Bauch, bevor ich Emma zulächelte.

„Sie weiß, was gut für dich ist." Dann öffnete sie die Tür und ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller. Einige der Frauen saßen auf Stühlen, welche im Kreis aufgestellt waren. Andere standen an einer Getränkestation und unterhielten sich. Zumindest so lange, bis Emma und ich den Raum betraten. „Hallo, ihr Lieben", begrüßte Emma die Anwesenden. Alle stoppten mit ihren Gesprächen und als sie Emma ansahen, hatten alle ein Lächeln auf den Lippen. Ich, als Neuling, konnte eindeutig erkennen, dass sie Emma regelrecht liebten.

Emma stand neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Das ist Lya." Sie sah von den anderen zu mir. „Stell dich am besten selber vor."

Nervös sah ich in die Runde. So musste sich ein Kind an einer neuen Schule fühlen. Doch die Frauen lächelten mich an und nahmen mir somit etwas meiner Nervosität. „Ich bin Lya Davis und 29 Jahre alt. Wie man an meinem Bauch vielleicht erkennen kann, bin ich schwanger und in knapp vier Monaten kommt meine Tochter auf die Welt. Eigentlich komme ich aus Dover, lebe aber seit einigen Monaten hier in New Jersey als Obdachlose. Gestern hat Blake mich dann quasi gefunden und hierher gebracht."

Mir war so, als hätte ich ein Seufzen gehört, einen schmachtenden Laut, und das von jeder Frau in diesem Raum. Blake wirkte also nicht nur auf mich attraktiv. „Willkommen", sagten sie dann und begannen, sich nacheinander vorzustellen. Eine Frau mit dunkelblondem Haar war die erste, die auf mich zukam. „Ich bin Helena und habe zwei Söhne, Glenn und Theo. Sie leben mit mir hier in einem der größeren Appartements. Der Vater der beiden, mein Exmann, sitzt im Gefängnis. Er hat bei einem Überfall zwei Menschen erschossen." Offenbar hat sie ihre Geschichte bereits einige Male erzählt, denn sie wirkte nicht traurig oder betroffen, als sie von ihrem Ex erzählte.

Die nächste zog mich in eine Umarmung. „Ich bin Jenny." Sie hatte genauso dunkles Haar wie ich. „Ich habe einen zweijährigen Sohn. Sein Name ist Parker. Vermutlich spielt er gerade wieder mit Glenn und Theo. Mein Mann ist letztes Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen." Sie atmete tief durch. „Ich war Obdachlos, genau wie du. Doch dann fand Emma mich und Parker und brachte uns hier her. Ich kann mich also gut in deine Lage versetzen und wenn du mal reden möchtest, habe ich immer ein offenes Ohr für dich."

„Ich bin Meredith und im vierten Monat schwanger. Wir beide sind im selben Alter. Ich war dumm genug, zu glauben, dass ich die einzige Frau im Leben meines Lebensgefährten wäre. Als er herausfand, dass ich schwanger bin, hat er sich mit einem jüngeren Model aus dem Staub gemacht. Natürlich erst, nachdem er mein Konto geräumt hat." Die rothaarige Meredith hatte fast dasselbe wie ich erlebt.

„Keine Sorge. Ich war auch so dumm. Mein Mann warf mich aus dem Haus, als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählte und meine Eltern stehen auf seiner Seite", erzählte ich ihr. „Zum Glück hat er kein Interesse an ihr. Somit muss ich mir keine Gedanken machen, dass er vorhat, das Sorgerecht für sie zu beantragen."

Nach und nach stellten sich alle vor und als sie mir ihre Geschichten erzählten, wurde mir bewusst, dass ich es vergleichsweise einfach hatte. Dabei dachte ich immer, dass es mich hart getroffen hätte.

„Und Blake hat dich hierher gebracht?", fragte Jenny und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. Da war es wieder, dieses schmachtende Geräusch. „Sag es nicht Emma, aber wir sind ihm alle verfallen", lachte sie.

Wir saßen nebeneinander und unterhielten uns gemeinsam mit Meredith und Sarah. Emma sprach gerade mit Paula. Sie wäre die nächste, die die Einrichtung verlassen würde. Helena und Rika hatten sich schon verabschiedet, um nach den Kindern zu sehen.

„Alle?" Ungläubig sah ich sie an.

„Oh ja. Wirklich alle", bestätigte Sarah. „Es ist aber auch zu schade, dass er schwul ist."

„Er ist was?"

„Glaub mir", meinte Meredith. „Er ist wärmer als eine Heizung an einem kalten Wintertag."

Diese Information musste ist erst einmal verdauen. Nicht, dass es ein Problem war, dass Blake am anderen Ufer schwamm. Er wirkte einfach nicht so auf mich. Vielleicht beschäftigte es mich auch nur, weil meine Hormone verrückt spielten. Nach einer Stunde verabschiedeten wir uns voneinander und jede ging zurück in ihre eigene Wohnung. Emma fuhr nach Hause und wollte die nächsten Tage noch einmal vorbeischauen. Ich sollte mich erstmal in Ruhe einleben. Ich schloss meine Tür auf, schaltete das Licht ein und stieg vorsichtig über die Einkäufe und meine restlichen Sachen, die wir vorhin nur schnell hineingestellt hatten. Als mein Blick durch die kleine Wohnung schweifte, wurde ich stutzig. Der Vorhang zu meinem Schlafbereich war zugezogen, dabei war ich mir sicher, dass ich ihn heute Morgen offen gelassen hatte. War jemand heimlich hier?

„Hallo?" Vorsichtig ging ich auf den Vorhang zu, erhielt auf mein Rufen jedoch keine Antwort. Vielleicht hatte ich mich einfach nur geirrt und ihn doch zugezogen. Ich nahm meinen Mut zusammen und zog ihn zur Seite. Doch mit dem, was ich sah, hatte ich nicht gerechnet. Der Kleiderschrank war zur Seite geschoben und eine Krippe stand an der Wand. Tränen liefen mir unaufhaltsam über mein Gesicht, denn ich wusste nun, warum Emma heute kurz verschwunden war. Auch Blakes kurzer Besuch im Café heute ergab plötzlich Sinn. Eine weitere Überraschung fand ich dann in der Krippe liegend. In einem Karton, auf dem Bambi stand, fand ich ein Handy, welches scheinbar für mich bestimmt war. Es waren nur zwei Nummern eingespeichert. Eine gehörte Emma, die andere Blake.

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