Wieg mich in Sicherheit

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Nach meinem Telefonat mit Tarik tigere ich im Garten auf und ab. Erinnerungen an tausend Partys, tausend feuchtfröhliche Abende schießen mir durch den Kopf, überlagern sich gegenseitig ... Ich balle die Hände zu Fäusten und strecke meine Finger wieder aus, immer im Wechsel. Hier im Garten ist es still, versuche ich in die Gegenwart zurückzukehren. Stück für Stück verklingen die Stimmen meiner Freunde und ich zwinge mich dazu, in diesem Augenblick bewusst zu leben; zu fühlen, wie sich das Gras unter den Sohlen meiner Turnschuhe biegt, den Wind zu spüren, wie er meine Locken aufwirbelt. Als ich ein paar Regentropfen abbekomme, bleibe ich stehen und lasse sie auf meiner Haut zerplatzen. Ich werde patschnass, ich sollte reingehen, aber ich möchte noch nicht.
"Iara!" Tuas Stimme lässt mich zum geöffneten Fenster im oberen Stockwerk aufblicken. "Was machst du? Wieso bist du noch draußen?"
"Nur noch fünf Minuten", rufe ich. Das Fenster geht wieder zu, dafür schwingt eine knappe Minute später die Glastür auf, die aus dem Wohnzimmer rausführt, und mein Freund tritt hindurch.
"Was ist los?", fragt er mich ernst. Er mustert mich besorgt. Das braucht er nicht zu sein und ich will es ihm sagen, aber ich sende nur tonlos die Information aus: "Tarik und Jenn werden heiraten."
Tua nickt langsam. "Ich weiß." Er hat die Stirn in Falten gelegt und scheint sich zu fragen, was wirklich mit mir los ist. Manchmal denke ich, er ist der einzige, den es tatsächlich interessiert, was ich fühle. Und manchmal, so wie zuletzt, beschleicht mich der Verdacht, dass es nicht einmal ihn interessiert. "Deshalb stehst du draußen im Regen? Weil unsere Freunde sich verlobt haben."
"Nein", antworte ich kurz angebunden.
"Wieso dann?", fragt er sofort weiter nach und schlägt dabei einen drängenden Tonfall an, der mir einerseits verrät, dass er es unbedingt wissen möchte und mich andererseits unter Druck setzt.
Statt nach einer Erwiderung zu angeln, umarme ich ihn und übermittele auf körperliche Art, dass es zu viel ist. Es ist zu viel, wenn Jenn und Tarik entschieden haben zu heiraten und wir in Reulingen Tuas Vater beim Sterben zusehen; es ist zu viel für mich, dass mir in Berlin wieder die gleiche Scheiße blüht wie sonst auch, dass ich wieder irgendwem aus seinen Problemen raushelfen muss, während meine eigenen innerlich zu tumorartigen Geschwüren auswachsen. So tumorartig wie der Krebs, an dem Kostja leidet.
Mein Freund hält mich fest und ich gebe dem Drang nach, lasse los, während ich stumm an ihn gepresst dastehe und einfach weine.
"Es tut mir leid", höre ich ihn sagen.
"Entschuldige dich nicht, es hat kaum was mit dir zu tun", schniefe ich. Ich zittere, aber was zählt das?
"Doch, man entschuldigt sich, wenn man was falsch gemacht hat. Auch kaum was reicht aus, damit ich mich bei dir entschuldige, okay?" Er gibt mir einen Kuss auf den Scheitel und ich drücke ihn fester. "Lust auf einen Spaziergang im Regen?", flüstert er mir ins Ohr.
Ich sehe zu ihm auf, bin um Worte verlegen. Er umschließt meine Hand indessen mit seiner eigenen.
"Es ist zu kalt dafür", sage ich, aber es hört sich nicht nach mir an. Meine Stimme klingt hohl und fremd.
"Schwachsinn. Frierst du?"
"Nein", gebe ich perplex zurück.
"Gut. Ich auch nicht. Los, lass uns ein bisschen laufen."

Es dauert eine Weile, wir sind fast zwei Stunden zu Fuß unterwegs, aber danach ist mein Kopf rein, wie die Luft nach dem sanften Schauer. Wir haben konstant geredet und ich bin alles losgeworden, bis ins letzte Detail. Tua ist ein guter Zuhörer und ich bin ihm mehr als dankbar.
Während er sich noch auf eine Stunde zu seinem Vater gesellt, setze ich mich zu Ivanka, die einen Schal aus dicker, weißer Schafswolle strickt.
"Ihr wart lange weg", leitet sie vorsichtig ein Gespräch ein.
"Er hat sich um mich gekümmert, das dauert manchmal ein bisschen", kläre ich sie auf und lächle verlegen. Bevor ich zu einer Gegenfrage ansetzen kann, stellt Ivanka mir schon die nächste.
"Frisst du deine Sorgen auch in dich hinein?"
"Normalerweise nicht", erteile ich ihr bereitwillig Auskunft. "Ich hatte nur das Gefühl, an seiner Stelle stark sein zu müssen in der schwierigen Situation gerade, deswegen ist es wohl passiert."
Ivanka nickt andächtig. "Die Situation ist vor allem für ihn schwierig. Du kannst ihm diese Bürde nicht abnehmen."
"Leider", bestätige ich. "Wenn ich könnte, ich würde es tun ohne zu zögern ... Für wen ist der Schal?", frage ich sie schließlich doch.
"Für dich, wenn du ihn möchtest." Sie zwinkert mir zu. "Ich stricke gern, ich habe einen ganzen Schrank voll mit Strickware, jede Menge Decken, Jacken, Mützen ... Eine Schublade ist voll mit Babysachen, die ich aus Nostalgie gestrickt habe."
"Darauf können wir ja dann in ein paar Jahren prima zurückkommen", rutscht es mir raus und Ivankas Lächeln wird noch ein wenig breiter.
"Habt ihr schon über Kinder gesprochen?"
"Nein, haben wir noch nicht", sage ich und fahre mir irritiert durch die Haare. Warum ist mir das eben entwischt? "Ich weiß nicht, ob ich wirklich Kinder möchte."
"Ich glaube schon, sonst hättest du das wohl nicht gesagt", schmunzelt sie. "Johannes hatte einen guten Vater, darum weiß ich, er wird selbst ein guter Vater werden."
"Hat", korrigiere ich sie automatisch und Ivanka läuft rot an.
"Du hast recht, er hat einen guten Vater. Entschuldige, ich versuche nur mit dem Gedanken warm zu werden, dass ... Du weißt schon ..."
"Irgendwie bereitet man sich sein Leben lang darauf vor und am Ende ist man trotzdem nicht bereit", wiederhole ich Tuas Gedanken dazu, die er auf dem Spaziergang mit mir geteilt hat.
Ivanka geht nicht darauf ein.
"Kostja wollte mit Johannes wegfahren, in die Ukraine", sagt sie und wirkt dabei weit entfernt auf mich, als würde sie durch eine andere Galaxie schweben. "Jetzt bleiben sie beide hier, bei mir."
"Die Reise hat er erwähnt", murmle ich. "Ive." Ich wähle Kostjas Spitznamen für sie absichtlich, meine Intuition sagt mir, dass ich das Richtige tue und das aufgeregte Funkeln in ihren Augen, als ich die liebevolle Abkürzung artikuliere, bestätigt es mir noch zusätzlich. "Du wirst zurechtkommen und allein wirst du auch nie sein. Dein Sohn liebt dich sehr und er wird immer für dich da sein, wenn du ihn brauchst."
"Iara", seufzt sie. "Es ist nicht so leicht, in den eigenen Kindern die Erwachsenen zu sehen, die später unweigerlich aus ihnen werden. Da drüben hat er sich das erste Mal am Sessel hochgezogen und auf seine kleinen Füße gestellt. ..." Sie blickt in die Ecke diagonal gegenüber von uns, in der besagter Sessel steht.
"Vielleicht ist das zu viel verlangt, aber wenn ich eine Bitte an dich richten darf: Vertrau mir", beharre ich darauf, lege eine Hand auf ihre schmale Schulter. "Er ist nicht mehr, wer er mal war. Wie er mal war ... Tua kann für sich selbst sorgen. Er kann sogar für mich sorgen und ich bin eine ganze Hand voll", scherze ich.
Sie sieht mich aus ihren schönen großen Augen an.
"Ich weiß nicht, was es ist", sagt sie dann, "... warum ich dir vertrauen möchte. Du hast etwas sehr Eigentümliches an dir; etwas, das Sicherheit verspricht. Es erinnert mich an das, was ich in Kostja gesehen habe, als ich noch so jung war und ihm das erste Mal begegnet bin."
Ich lehne mich auf dem Sofa zurück und sehe an die Wand gegenüber. Ein Kunstdruck von Kandinsky hängt dort. Im Blau, wenn ich mich nicht irre. Das Bild passt in dieses Haus, in dem mir alles so seltsam verschroben vorkommt.
"Das ehrt mich", meine ich leise.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt