Eines Tages dann für immer

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"Hi", begrüßt Tua mich leise und stößt die Tür zu meinem Zimmer sanft auf. Ich blicke bloß einige Sekunden von dem Papierkram auf. Meine Krankenversicherung verlangt einen Ausbildungsnachweis, als hätte ich nicht genug zu tun. Seit einer halben Stunde brüte ich über dem Formular, weil ich es einfach nicht schaffe, mich vernünftig zu konzentrieren. Tua zieht eine Tüte aus seiner Jackentasche und wirft sie vorsichtig zu mir aufs Bett. Ein paar der bunt verpackten Inhalte rollen aber doch raus. "Ich war im Russischen Laden und hab dir die Süßigkeiten geholt, auf die du so stehst."
"Danke", bringe ich tonlos raus und starre auf die Bonbon- und Waffelspezialitäten. Mein Freund hockt sich derweil auf die Bettkante.
"Was machst du?", deutet er auf den Haufen wild durcheinander gewirbelter Unterlagen.
"Ist für die Versicherung", antworte ich knapp, schließe die Augen und lege meinen Handrücken auf meine Stirn. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Erschöpft lege ich mich hin und blinzle erst, als ich fühle, wie Tua mich auf die Stirn küsst. Ich sehe ihm in die Augen, er schaut zurück, legt eine Hand an meine Wange und küsst mich wieder, diesmal auf den Mund.
Schwach erwidere ich es, doch dann drehe ich den Kopf zur Seite.
"Ich hab eine Bitte an dich", sage ich und sehe ihm in die Augen. Tua schaut mich aufmerksam an. "Wir machen das mit der Therapie wie besprochen, ich fahre dich hin und komme dich abholen. Wir essen was und verbringen die Nacht zusammen, hier oder bei dir." Er wickelt eine meiner Locken um seinen Zeigefinger.
"Du brauchst mehr Freiraum", nimmt er mir den letzten und wichtigsten Teil der Bitte ab, die ich vorbringen wollte.
"Ich liebe dich sehr, aber ich hatte ein Gespräch mit Mika darüber und ich bin seiner Meinung."
"Mach dir mal keine Sorgen, ich glaube, wir sind beide seiner Meinung." Tua rollt sich von mir runter, greift nach meiner Hand und verschränkt seine Finger mit meinen.
"Er hat mir jetzt nicht direkt gesagt, dass ich mit dir Schluss machen soll."
Mein Freund dreht mir den Kopf zu und die Andeutung eines Grinsens umspielt seine Lippen.
"Indirekt wird er dir das bestimmt auch nicht gesagt haben."
"Nein", murmle ich und starre an die Decke. Ich schlucke. Meine Kehle fühlt sich trocken an. "Wenn du dir weiter nicht helfen lässt, muss ich gehen, das ist dir klar, oder?" Er schiebt einen Arm unter meinen Körper und hebt mich auf sich rauf. Ich blicke auf ihn herab, streiche gedankenverloren über seinen Bart.
"Ich weiß das ganz genau", bestätigt Tua. "Und ich hab Riesenschiss, dass ich das nicht gebacken kriege, denn ich will dich auf keinen Fall verlieren. Aber wenn es zu spät ist, dann ist es zu spät. Dann würde ich dich gehen lassen. Bitte mach dir keine Sorgen deswegen, Kíßa. Du machst dir doch welche, ich seh's dir an der Nasenspitze an."
"Wenn ich vielleicht gehen muss, was wird denn dann aus dir?", frage ich ihn.
"Darum brauchst du dich dann nicht mehr kümmern."
"Ich will es aber wissen", murre ich.
Tua pustet leicht gegen meinen Mund und küsst mich.
"Ich weiß es selbst nicht, ich kann schließlich nicht in die Zukunft schauen. Aber egal, was mit mir und mit dir danach passiert, es wird schon okay sein." Eigentlich ist es ja tröstlich, was er sagt, und trotzdem sammeln sich Tränen in meinen Augen.
"Ich kann mir kein Danach vorstellen", krächze ich heiser.
"Ich mir auch nicht", gibt er zu und umarmt mich ein wenig fester. "Es tut mir leid, dass ich dauernd lüge", fährt er fort. Das ist eine Entschuldigung, mit der ich nicht gerechnet habe.
"Warum machst du das überhaupt?", frage ich ihn. Er leckt sich kurz über die Lippen, bevor er antwortet.
"Ich stelle mir in diesen Momenten immer vor, was ich gern zu dir sagen würde, und tu's einfach; und noch während ich die Sätze ausspreche, fang ich schon selbst an, daran zu glauben. Es ist komisch, als hätte ich Amnesie. Ich check an der Stelle nicht mal mehr, dass ich überhaupt gelogen habe, bis es mich irgendwann einholt."
Statt näher darauf einzugehen, beschließe ich das Thema zu wechseln.
"Und du bist sicher, dass das in Ordnung für dich ist, wenn wir uns nur einmal die Woche sehen?"
"Lass uns einfach gucken, wie das klappt. Wenn's auf die Art nicht geht, dann finden wir eine andere Lösung. Uns wird schon was einfallen." Er küsst meinen Nasenrücken. "Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch", flüstere ich. "Bestimmt tut uns das gut", räuspere ich mich. "Also der Abstand."
Tua nickt.
"Dir wird das definitiv guttun."
"Dir nicht?"
Er lächelt melancholisch. "Mir wird das guttun, weil dir das gut tut."
Jetzt bin ich diejenige, die ihn küsst. Tua nimmt mein Gesicht dabei in seine Hände. Was für ein schöner Kuss, schießt es mir währenddessen durch den Kopf. Wieder so einer mit schrecklich viel Gefühl. Darin hat alles seinen Platz, ob nun Trauer, Wut, Angst oder Verzweiflung. Hier kann ich alle Emotionen rauslassen. Das konnte ich schon immer, seit wir zusammen sind. Dazu sind diese Küsse gedacht. Sie heilen mich, teilen meinen Schmerz und am Ende fühle ich mich leichter. Vor allem aber liegt Liebe darin. Alles, was ich für Tua empfinde und er für mich. Das ist meine Lieblingsfacette daran: die Liebe, die mich unsere Unendlichkeit spüren lässt. Ich muss lächeln. Mein Freund hebt seine Knie leicht an.
"Isst du mit mir was von den Süßigkeiten?"
"Nur wenn's Batontschiki gibt", gebe ich zurück. Tua lacht.
"Klar, für wen hältst du mich?" Er richtet sich mit mir zusammen auf, hebt den Oberkörper trotz des Gewichts, das durch mich darauf platziert ist, problemlos an und tatstet nach der Tüte, aus der er die eingewickelte Spezialität zieht. Es ist im Grunde genommen stinknormales Halva, wie Pari es manchmal selbst für unsere WG macht. Aber der Clou sind die gemahlenen Erdnüsse. Deswegen schmecken Batontschiki so gut. Als das Praliné auf meiner Zunge schmilzt, merke ich, dass ich viel ruhiger bin als noch vor ein paar Minuten. Eine Hand schiebe ich unter Tuas Shirt, fahre seinen Bauch hoch, bis zu seiner Brust, gelange auf Herzhöhe. "Ich freu mich schon drauf, wenn wir immer so süß sind, wie jetzt gerade", lächle ich.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt