Menetekel

67 9 7
                                    

Tua ist irgendwohin entschwunden. Ich sehe ihn nicht mehr und mache mir Sorgen, weil er schon die halbe Schachtel geraucht hat. Um fünf Uhr morgens saß er auf dem Balkon, mit der ersten oder zweiten Kippe in der Hand. Ich wusste es nicht so genau, bin zur Toilette gegangen und habe ihn nur kurz gefragt, ob alles in Ordnung ist. Er hat mir befohlen, wieder schlafenzugehen. Ich war müde, also habe ich ohne zu Zögern getan, was er von mir verlangt hat. Jetzt schleicht sich das Bild von heute Morgen wieder in meinen Kopf. Er stand dort, den Blick in die Ferne gerichtet, schwarzer Hoodie, schwarze Jogginghose. Alles wie sonst auch. Jedenfalls kam es mir zuerst so vor. Aber etwas lag in seinem Ausdruck, das in einer anderen Sprache zu mir gesprochen hat; einer Sprache der Trauer, der Angst und Schmerzen. Ich bereue inzwischen, dass ich meine Erschöpfung in diesem Moment gewinnen lassen habe. Wieso habe ich mich nicht zu ihm gestellt? Wenigstens schweigend hätte ich in seiner Nähe bleiben und ihn weiter dabei beobachten können, wie er abwechselnd den Rauch und dann die klirrend kalte Luft inhaliert. Als meine Lebensgeister später schließlich erwacht sind, habe ich ihn scherzhaft gefragt, ob er Zigaretten frühstücken möchte. Im Nachhinein kommt mir dieser Kommentar schrecklich unsensibel vor.
Ich blicke aus dem Fenster. Kleine Eiskristalle überziehen die Scheibe, aber ich erkenne trotzdem den grauen Parkplatz dahinter. Und meinen Freund, der, die Hände tief vergraben in der Tasche seines Kapuzenpullovers, langsam auf das Auto zukommt, in dem ich seit fünfzehn Minuten sitze und auf ihn warte. Die Tür auf der Fahrerseite schwingt auf und er sinkt auf den Ledersitz, legt kurz den Kopf in den Nacken. Mit geschlossenen Augen atmet er tief durch. Die Tür steht noch offen und es zieht. Ein harscher Windstoß peitscht hinein in den beheizten Innenraum des Wagens. Mit zitternden Fingern greife ich an ihm vorbei, versuche den Griff zu erwischen und falle dabei mit dem Oberkörper gegen ihn. Die Berührung reißt Tua aus seiner Trance. Er öffnet die Augen langt nach dem Türgriff, ganz knapp vorbei an meiner Hand und schließt sie.
"Danke", murmle ich leise.
Tua sieht kurz zu mir rüber und dreht dann die Heizung noch ein paar Grad höher, bevor er den Motor startet und uns wieder auf die Autobahn lenkt. Er stellt außerdem die Musik lauter. Scheint nicht, als wollte er sich mit mir unterhalten. Ich schlinge beide Arme um mich, schlüpfe aus meinen Sneakers und ziehe die Knie an, drücke die Füße in die Kante des Beifahrersitzes und wir rauschen vorbei an karger, endloser Landschaft. Nachdem ich eine Weile meinen Gedanken nachgehangen und bemerkt habe, dass das zu nichts führt, hole ich mein Handy raus und schaue nach, ob irgendwer online ist. Am liebsten würde ich telefonieren, aber ich will Tua nicht vom Fahren ablenken und die Musik, die aus den Boxen schallt, würde mich eh nur dabei stören. Tarik ist online. Blöd nur, dass ich ganz sicher nicht mit ihm reden möchte. Das würde nur unweigerlich dazu führen, dass ich seine Probleme zu meinen eigenen mache und ich habe so im Gefühl, dass ich gerade nicht nur auf Tuas Heimatstadt Reutlingen zurolle, sondern auch auf eine schwere Woche an seiner Seite. Mein Freund verschließt sich immer mehr vor mir und ich habe alles ausprobiert. Erfolglos. Er wird sich mir nicht allzu bald öffnen. Das muss ich akzeptieren, auch wenn ich so meine Schwierigkeiten damit habe.
Ich tippe ein lahmes Hey und sende es an Stean, dessen Status unverändert bleibt. Offline. Ich fahre mir langsam mit einer Hand durch die zimtfarbenen Locken, die mein ungeschminktes Gesicht einrahmen.
Auf Instagram entdecke ich Posts von David, meinem Mitauszubildenden, und seiner Freundin. Sie müssen eine Art romantisches Foto-Shooting gebucht haben, jedenfalls sind die Bilder professionell nachbearbeitet worden und zeigen die beiden in einem Skatepark bei Sonnenuntergang. Jedem Foto lasse ich ein Herz da, dann verschicke ich noch eine Privatnachricht über Instagram an David, in der ich ihm mitteile, dass seine Freundin wirklich hübsch ist. Mit einer Antwort habe ich gar nicht gerechnet, aber genau die ploppt plötzlich auf meinem Display auf.

David: Danke, ich richte es ihr aus :) Wie war Heiligabend mit deiner Familie?

Erst tippe ich eine oberflächliche Antwort, doch schon kurz darauf lösche ich den Text. Ich könnte mich David einfach anvertrauen, immerhin hat er mich erst auf den Trichter gebracht, Tua nach seiner Familie und der Feier zu fragen.

Iara: Mein Freund und ich haben uns am Abend davor gezofft. Ich dachte, er versetzt mich vielleicht, aber er ist dann doch noch aufgetaucht und ab da war's dann echt eine fröhliche entspannte Runde mit allen ... Wir sind jetzt unterwegs zu seinen Eltern, die wir über Silvester besuchen wollen.
David: Dann lernst du sie also doch noch vernünftig kennen. Siehst du, du musst nur fragen. Oder ... Warte mal, habt ihr euch deswegen gestritten?
Iara: Ja, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich weiß auch nicht, was los ist. Irgendwas zieht ihn übel runter, aber er redet nicht mit mir darüber, bisher ist er nur einmal ausgerastet und im Anschluss direkt abgehauen.
David: Ich kenne ihn nicht, das wird ja aber bestimmt eine Ausnahme gewesen sein, oder?

Ich lächle. David ist ein guter Kerl, das spüre ich. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er Tua nicht sofort verurteilt.

Iara: War es, absolut. Wir haben uns vertragen und er hat einen Schritt auf mich zugemacht, indem er vorgeschlagen hat, heute hinzufahren, damit wir Silvester bei ihnen verbringen können.
David: Schön, das freut mich :) Andere Frage: Hast du was von Bastian gehört, wegen Luks anstehender Tourplanung?

Innerlich seufzend verdrehe ich die Augen.

Iara: Nein. Bastian ist schlecht auf mich zu sprechen, er wird sich zuerst bei dir melden.
David: Warum denn? Was hast du gemacht?
Iara: Hat nix mit der Arbeit zu tun, ist was Privates.
David: Dann hake ich wohl lieber mal nicht weiter nach. Du bist dir sicher, dass er sich die Tage an mich wendet?
Iara: Wann weiß ich natürlich nicht, aber du solltest auf jeden Fall schneller die Infos bezüglich der Tour von ihm kriegen als ich.

David bedankt sich für die Auskunft, worauf ich nicht mehr antworte. Vorerst ist ja alles geklärt. Stattdessen kehre ich in den angefangenen Chat mit Stean zurück. Tja, mein bester Freund hat meine Nachricht empfangen, aber noch nicht gelesen. Das hat bestimmt seine Gründe, trotzdem ärgere ich mich darüber.
Ich lege mein Handy in den Getränkehalter auf der Mittelkonsole. Wie lange müssen Tua und ich uns auf dieser siebenstündigen Fahrt noch anschweigen?

"Iara, wach auf", holt seine Stimme mich unwirsch aus einem tiefen, traumlosen Schlaf zurück in die Realität. "Wir sind da."
Stöhnend reibe ich mir über die Augen. Mir tut der Rücken weh.
Tua fummelt eine seiner letzten Zigaretten aus der Packung und einem starken Impuls folgend, nehme ich sie ihm weg. Er hält nur den einen Glimmstängel in der Hand, schaut erst darauf und dann mir eindringlich in die Augen. "Und wann bekomme ich die wieder?", fragt er.
"Weiß ich noch nicht", zucke ich die Schultern.
Er schnaubt und klettert aus dem Mercedes. Ich angle währenddessen meine Jacke vom Rücksitz und ziehe sie an. Tua rennt praktisch davon, aber so leicht entwischt er mir diesmal nicht. Ich jogge ihm hinterher und ziehe rabiat an der Kapuze seines Hoodies, als ich ihn eingeholt habe. "Lauf nicht dauernd irgendwohin, wo ich dich nicht mehr sehen kann", fluche ich.
"Kannst du dich nicht zwei Minuten mit dir selbst beschäftigen?", keift er unsanft.
"Ich habe mich gerade sieben Stunden lang mit mir selbst beschäftigt!", fahre ich ihn wütend an.
Tua sieht zur Seite und schluckt. In seinen Augen schimmern Tränen. War das im Auto schon so? Ist mir das eben nur nicht aufgefallen? Ich drücke jeden Wirbel einzeln durch und lege beide Hände auf seine Hüfte. "Entschuldige", sage ich und hauche ihm einen federleichten Kuss auf die Wange.
Er schluckt nochmal härter. "Ich -" Aber er bricht ab, hebt einen Arm, legt ihn über seinen Mund. Sein gesamter Körper spannt sich an. Beim Ausatmen bebt er kaum merklich und seine große Hand landet auf meinem Rücken und drückt dagegen. Ich stolpere auf ihn zu und wir versinken tatsächlich ein paar geschlagene Minuten in einer festen Umarmung. Als er sich von mir löst, sieht er miserabel aus. "Wenn wir da gleich reingehen ..." Er nickt in Richtung seines Elternhauses am Straßenrand. "Bitte verhalt dich einfach ganz normal, okay?"

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt