Mein Handy vibriert ununterbrochen in meiner hinteren Hosentasche, aber ich kann jetzt nicht rangehen. Ivanka und ich wechseln Kostjas Laken und die Bettbezüge, während Tua seinen Vater auf einen Stuhl verfrachtet hat und aufpasst, dass sämtliche Geräte, die lebenserhaltende Funktionen seines geschwächten Körpers übernehmen, an ihn angeschlossen bleiben. Ich arbeite unter Hochdruck, reiche Ivanka die Stoffmassen, wie wir es zuvor abgesprochen haben, und greife nach der frischen Bettwäsche. Tuas Mutter verschwindet in Richtung Waschkeller und ich breite das neue Laken aus, stecke es an den Ecken fest, greife nach der Decke und dem dazu passenden Bezug - "Du musst nicht so hetzen", versetzt Kostja und ich zucke zusammen, weil ich so sehr im Fluss meiner Bewegungen passiv umhergewirbelt bin, dass seine Worte mich eiskalt erwischen. Unsicher sehe ich mich nach ihm um. Kostja schmunzelt, Tua neben ihm hat die Augenbrauen angehoben und bestätigt: "Mich stresst es schon, dir dabei nur zuzusehen."
Also entscheide ich mich gegen einen Kommentar und für einem tiefen Atemzug. Dem Kissen widme ich mich anschließend in gemäßigtem Tempo. Als ich fertig bin, hilft Tua seinem Vater beim Aufstehen. Ich schlage die Decke zurück und erst als Kostja bequem liegt, beruhigt sich mein Herzschlag langsam wieder.
Tua hat das Bett umrundet und küsst mich auf die Wange.
"Danke, ihr beiden", nickt Kostja uns zu.
"Dafür nicht", erwidert sein Sohn, ehe er die Hand an meinen Hintern gleiten lässt und mir mein Handy reicht, nachdem er einen flüchtigen Blick aufs Display geworfen hat. "Stean muss anscheinend ziemlich dringend mit dir reden."
"Das kann warten", widerspreche ich, aber Tua schüttelt den Kopf und pikst mich liebevoll in die Seite.
"Kann es nicht, er wird wohl kaum aufhören, dich zu nerven, bis du abnimmst. Na los, telefonier kurz", fordert er mich auf und ich fahre mir seufzend durch meine Locken.
"Sicher?", hake ich nach.
"Geh ran, Iara."Ich husche aus dem Raum und dann aus einem Impuls heraus auch aus dem Haus, in den Garten, wo ich Steans Anruf schließlich entgegennehme.
"Endlich", meldet er sich theatralisch.
"Hallo", meine ich.
"Verdammt, Misty, es tut mir leid, dass ich dich gestern so hängen gelassen habe. Was war los?"
"Wieso bist du nicht erreichbar gewesen?", stelle ich ihm eine Gegenfrage und nehme einen weichen Zweig der großen Trauerweide zwischen Daumen und Zeigefinger. Unter dem Baum steht eine Bank, ein exaktes Gegenstück zu der auf der Veranda.
"Ich war unterwegs mit Freunden, wir sind so weit rausgefahren, dass wir kein Netz hatten."
"Du hättest mir auch spät abends noch schreiben können", gebe ich anklagend zurück.
"Da musste ich mich um einen Kumpel kümmern, der zu viel getrunken hatte. Erzählst du mir jetzt, was los ist? Ich konnte spüren, dass irgendwas nicht in Ordnung ist bei dir", beteuert er und ich glaube ihm. Wieso sollte ich auch nicht, was hätte Stean für ein Motiv mich anzulügen? Er ist immerhin mein bester Freund. "Seid ihr bei Tuas Eltern?", will er wissen, denn von unseren Plänen, nun doch über Silvester nach Reutlingen zu fahren, habe ich ihm berichtet.
"Sind wir", bestätige ich seine Vermutung. "Tua hat sich auf der Fahrt hierher weiter komisch benommen, er war total in sich gekehrt."
"Und hast du herausgefunden, weshalb?"
Ich beiße mir auf die Unterlippe und erschrecke vor mir selbst, als ich auf einmal Blut schmecke. "Ja", antworte ich. "Ja, sein Vater -" Unschlüssig breche ich ab. Geht das Stean überhaupt irgendwas an? Aber mit irgendwem muss ich abseits von Tua doch drüber reden, sonst zerbreche ich noch daran. "Tuas Vater liegt im Sterben."Zuerst herrscht Stille, dann haucht Stean ganz leise: "Oh, scheiße."
"Jap", fiepe ich.
"Wie geht's dir damit?"
Nach Tua fragt er gar nicht erst, aber das wundert mich nicht. Sein eigener Vater ist einige Jahre, bevor ich Stean kennengelernt habe, an einem Herzinfarkt gestorben. Er ahnt also, wie mein Freund sich fühlen muss.
"Mir ..." Tja, wie geht's mir überhaupt? "Mir geht's ..." Ich falle auf die Bank und starre einen Moment auf das Haus; auf das Fenster, hinter dessen Scheibe sich Kostjas Krankenzimmer verbirgt ... "Ich weiß nicht, wie's mir geht", gestehe ich. "Ich kann damit umgehen, schätze ich. Auf jeden Fall funktioniere ich, kann erledigen, was von mir verlangt wird und mich um Tuas seelische Gesundheit kümmern." Meine Augen beginnen zu brennen und ich kneife sie zusammen. Lieber nicht weinen, sonst sehen sie drinnen später, was diese Situation mir abverlangt. Ich muss jetzt stark bleiben. "Einfach ist es nicht", spucke ich die Wahrheit schließlich mit erstickter Stimme aus. "Tua ist stellenweise verdammt gemein zu mir, gestern haben wir uns mitten in der Nacht gestritten. Wir haben uns gleich danach vertragen, aber seine Gefühlslage schwankt dauernd und er ist unberechenbar. Ich weiß nicht, ob er nicht sogar sauer wird, wenn ich ihm sage, dass ich dir davon erzählt habe, was mit seinem Vater ist. Nicht, dass ich Angst vor ihm hätte. Mir ist ja auch klar, dass er gar kein Recht dazu hat, seinen ganzen negativen Müll auf mich zu projizieren. Ich weiß nur, dass ich eigentlich viel zu sensibel für diesen Mist bin."
"Nein, rede dir das nicht ein, das wäre im Moment bloß kontraproduktiv, Iara", ermahnt mein bester Freund mich. "Du bist unglaublich stark, du bist einer der stärksten Menschen, die ich kenne. Das ist extrem hart, ich verstehe das. Aber du hast in der Vergangenheit schon eine Menge Kämpfe ausgefochten. Erinnere dich daran, dass du dich im Block von nichts und niemandem hast unterkriegen lassen und bei Universal genauso wenig."
"Bei Universal musste ich die Ausbildung abbrechen, das ist ein beschissener Vergleich", schniefe ich.
"Blödsinn! Du bist da hoch erhobenen Hauptes rausmarschiert, und zwar weil du genau wusstest, dass du das nicht bis an dein Lebensende mitmachen wirst, wie all die anderen hirnlosen Angestellten, die sich da kaputt arbeiten."
"Ich würde momentan auch am liebsten aus Reutlingen rausmarschieren", murre ich. "Weg von dem Gestank des Todes, der in meine Klamotten gekrochen ist. Vielleicht muss ich die verbrennen, wenn wir zu Hause sind."
"Ich glaube dir, dass du fliehen möchtest", reagiert Stean, ohne mein Statement in irgendeiner Form zu beurteilen.
"Eigentlich ja nicht", rudere ich zurück. "Ich will meinem Freund beistehen, mir bleibt keine andere Wahl und selbst wenn ich die Wahl hätte: Ich könnte Tua unter diesen Umständen niemals allein lassen."
"Na, siehst du. Das hört sich schon eher nach dir an." Stean lächelt, ich höre es am Klang seiner Stimme. Glasklar sehe ich ihn vor meinem inneren Auge und muss ebenfalls lächeln, doch bald darauf furchen sich erneut tiefe Falten in meine Stirn.
"Denkst du, ich schaffe das?", frage ich ihn schluckend.
"Ich denke, du schaffst alles, wenn du es nur wirklich willst, Misty."
Ich beiße mir in die Hand. Seine Worte berühren mich, aber ich darf nicht weinen. Nicht jetzt.
"Danke", wispere ich. "Ich hab dich lieb, Stean."
"Ich dich auch. Und ich habe noch eine gute Nachricht für dich. Bastian ist nicht mehr sauer auf dich. Er hat mit der Drogenberatung telefoniert und einen Probetermin für eine Gesprächstherapie bei denen am Standort vereinbart. Es stimmt tatsächlich, Ivo war Zeuge, als er es gemacht hat und -"
"Ivo lügt nicht", beende ich seinen Satz automatisch. "Das sind echt tolle Nachrichten." Um ein winziges Gramm ist der Felsen in meiner Brust, der mir das Herz zerquetscht, leichter geworden. Um ein Gramm, weil Bastian wie's aussieht kein mickriges Gramm mehr konsumieren will. Ich lege den Kopf in den Nacken und atme ein. "Sag ihm bitte, wie irre stolz ich auf ihn bin."
"Mach ich. Soll ich sonst noch mit jemandem reden, damit du dein Handy nicht ständig im Blick behalten musst bis Silvester?"
"Ja, mit Marcello. Ich lasse David mit der Festivalplanung für Luk gerade komplett allein. Im nächsten Jahr hänge ich mich voll rein auf Arbeit, um das auszugleichen."
Stean schnaubt amüsiert. "Deine Chefs sind im Urlaub, dein Mit-Azubi leistet einen klasse Job und dann gibt's ja noch Anita. Die können gut auf dich verzichten im Moment, es gibt ohnehin nichts zu tun im Büro."
"Schon kapiert." Ein bisschen quält mich mein schlechtes Gewissen aber dennoch. In der Musik-Branche gibt's eigentlich keine Ferien. Deswegen halten meine beiden WG-Mitbewohner mich auch für konstant überarbeitet. "Oh", fällt es mir siedend heiß ein und ich krampfe meine Finger um die Armlehne der Bank. "Ich bitte dich nur ungern drum, weil sie beide enttäuscht sein werden, dass ich es ihnen nicht persönlich gesagt habe, aber - Würdest du Mika und Pari darüber informieren, was gerade abgeht? Ich reagiere auf ihre Nachrichten, sobald ich kann, aber vielleicht verzögert sich -"
"Iara, halt mal die Luft an. Betrachte das alles als bereits erledigt, okay?"
Meine Anspannung löst sich langsam auf und das habe ich meinem besten Freund zu verdanken. "Okay. Hat gut getan, mit dir zu sprechen."
"Freut mich. Jederzeit, aber das weißt du ja. Sprich vielleicht bei Gelegenheit auch mal mit Tarik", rät er mir noch.
"Ja, du hast Recht, das sollte ich wohl. Tua muss auch mit Jenn reden", notiere ich mir längst den nächsten Punkt auf meiner mentalen Agenda.
"Halt durch da unten. Ich denk' an dich."
"Danke, Stean", wiederhole ich.
"Nichts zu danken. Also dann."
"Bis dann."
"Ciao."
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Messias
RandomIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...