Der Anblick von Tuas Vater in diesem Krankenbett macht etwas ganz Seltsames mit mir. Ein emotionaler Strudel wirbelt in mir, aber der Sturm tobt nur in meinem Innern. Nach außen trage ich wie selbstverständlich eine beinahe meditative Ruhe zur Schau. Ich zucke nicht, greife lediglich nach Tuas Hand, damit sich mein gleichmäßiger Puls hoffentlich auf ihn überträgt; ihm die Sache erleichtert. Frei von Angst oder Nervosität trete ich an Kostjas Bett. Alle negativen Gefühle verbanne ich, sie haben hier keinen Platz. "Hallo", sage ich und lächle sogar sanft dabei. Tua, dessen Hand ich nicht losgelassen habe, ist mir durch den Raum gefolgt. Kostja versucht sich aufzurichten und Ivanka erwacht aus ihrer Starre, als sie ihren Mann bei dem angestrengten Versuch beobachtet. Rasch schiebt sie ihm ein Kissen in den Rücken. Kostja ächzt, aber nachdem er pfeifend durch die Nase ausgeatmet hat, erwidert er mein Lächeln. "Iara, nicht wahr?", fragt er mich.
"Ja. Freut mich", sage ich und strecke ihm die Hand hin. Kostja ergreift sie und ich umfasse sie vorsichtig, um keinen der Katheter aus Versehen zu lockern. Tuas Vater sieht rauf zu seinem Sohn, der halb hinter mir steht. "Schön, auch dich mal wieder zu sehen", befindet er und ich trete etwas zur Seite. Mein Freund stellt sich an den Rand des Bettes, beugt sich runter und küsst seinen Vater auf den Haaransatz. Es ist eine verquere, liebevolle Geste. Eigentlich sollte es wohl umgekehrt ablaufen, zumindest denkt Tua so darüber, ich kann es in seinem Blick lesen. Auch Kostja scheint zu wissen, was ihm durch den Kopf geht und ein völlig deplatziertes Schuldgefühl verhärmt seine Züge; als hätte er diesen Vater-Sohn-Rollentausch um jeden Preis verhindern müssen. Dass er es nicht konnte, demütigt ihn. Er räuspert sich und fängt an zu husten. Ivanka greift nach einem Taschentuch und reicht es ihm, aber er lehnt es ab.
"Seid ihr schon lang hier?", krächzt er und greift stattdessen nach dem Wasserglas, das direkt neben ihm steht.
"Noch nicht lange, nein", antwortet Tua ihm leise.
"Wie war der Verkehr auf der Autobahn?"
"Es ging alles glatt, wir kamen gut durch", übernehme ich das Reden, weil Tua seinen Vater nur stumm anstarrt.
"Ive -" Kostja hustet wieder, fängt sich jedoch rasch. "Ive hat Wareniki für euch vorbereitet, ihr seid bestimmt hungrig."
"Was ist Wareniki?", hake ich nach.
"Das sind Teigtaschen mit Kartoffelfüllung", murmelt Tua.
"Das war früher sein Lieblingsessen", verrät Kostja mir.
"Klingt lecker", grinse ich. Tuas Vater lächelt und bedeutet mir dann, näher zu kommen. Ich tue es und er flüstert mir ins Ohr: "Es ist angenehm, zur Abwechslung mal jemanden strahlen zu sehen in diesem dunklen Zimmer."
Ich schmunzle und drehe mich in Tuas Richtung. "Wareniki also", wiederhole ich den Namen seines Leibgerichts aus Kindertagen und male mit dem Finger kleine Kreise auf seine Brust, ein kleines Stück über seinem Herzen.
"Du musst mir das Rezept geben", wende ich mich an Ivanka und Tuas Mutter nickt. Sie versucht zu lächeln, schafft es aber nicht. Kostja nimmt ihre Hand in seine und Ivankas Unterlippe zittert. Sie schließt kurz die Augen, nuschelt etwas auf Russisch und tupft sich dann mit dem Papiertaschentuch, das ihr Mann vorhin abgelehnt hat, ein paar Tränen trocken, die an ihrer Nasenspitze hängengeblieben sind.
"Ihr solltet nach dem Essen unbedingt noch einen Abendspaziergang machen", schlägt Kostja vor. "Heute bin ich etwas erschöpft, aber morgen erzählt ihr mir davon, was ich verpasst habe."
"Irgendwelche Geheimtipps?", frage ich ihn.
Kostja wirft Tua einen kurzen Blick zu. "Nein. Johannes kennt sich aus, er wird wissen, an welche Orte er dich führen sollte."
Tua äußert sich nicht dazu. Ich drücke seine Hand, die ich die ganze Zeit über nicht losgelassen habe, woraufhin er mich zu sich zieht und von hinten beide Arme um meine Taille schlingt. Er hält sich an mir fest und ich streichle beruhigend mit dem Daumen über seinen Handrücken.
Ivanka streicht indes ihrem Mann das grau melierte Haar aus der Stirn. "Ich bringe dir gleich eine Teigtasche", informiert sie ihn.
Kostja nickt einverstanden. "Eine werde ich essen."
"Kann man irgendwie helfen?", frage ich Tuas Mutter. Sie sieht zuerst zu ihrem Sohn und gleich danach mir eindringlich in die Augen. "Schon in Ordnung, ich schaffe das. Ihr solltet nach oben gehen und euch nach der langen Fahrt etwas ausruhen."
Als ich mich nach ihm umschaue, vergräbt Tua gerade sein Gesicht in meinen Locken. Mit einer Hand kraule ich ihm den Nacken, während ich mich von Kostja verabschiede. "Ist vielleicht nicht die schlechteste Idee", gehe ich erst noch auf Ivankas Rat ein. Ich versuche ihr zu vermitteln, das ich ihren Sohn schon irgendwie wieder auf die Beine bekomme. Trotzdem ist sie in tiefer Sorge um ihn und ich verstehe das, sie weiß ja auch nicht, ob sie mir in dieser Hinsicht vertrauen kann. Dazu müssen wir einander erstmal besser kennenlernen.
"Bis dann", sage ich an Kostja gewandt.
"Bis morgen", gähnt er.
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Messias
De TodoIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...