Einmal Atopia, immer Atopia

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"Hast du alles dabei? Deinen Schlüssel, Handy, Geld?" Mika zieht sich gerade eine Bomberjacke aus blaugrauem Samt über das schmucklose, weiße Poloshirt, und schiebt die Ärmel hoch. Seine blonden Haare sind frisch frisiert und er duftet nach einem Unisex-Parfüm von Calvin Klein.
"Klar, Daddy", zwinkere ich ihm zu. Mein Mitbewohner verdreht die Augen, doch ich tue, als hätte ich es nicht bemerkt und schleife ihn vor die Tür, die ich daraufhin abschließe. "Ich freu mich, dass wir mal wieder ausgehen", gestehe ich lächelnd.
"Du kannst die Ablenkung gebrauchen", gibt Mika unbeeindruckt zurück. Er dreht das Pilotenabzeichen an seiner Kette nach vorn, sodass es mittig über seinem Adamsapfel thront.
"Seit wann trägst du eigentlich Choker?", frage ich ihn. Mika zuckt die Schultern.
"Sieht nice aus, oder nicht? Kitty und ich waren in 'ner Menge Second-Hand-Läden am Wochenende."
"Irgendwie cool, dass ihr die Vorliebe für Fashion miteinander teilt", sage ich.
"Ist krass, dass du dich einfach jeden Morgen nur in ein Paar Skinny Jeans zwängst und dir den nächstbesten geklauten Pulli aus deinem Schrank greifst."
"Hey, ich bin halt das WG-Mitglied, das auf innere Werte achtet", entgegne ich schmollend. "Kann ja nicht jeder täglich als Hobby-Model das Haus verlassen wie Pari und du. Ich habe einen Haufen Verpflichtungen."
"Ich auch, trotzdem guck ich in den Spiegel, bevor ich morgens rausrenne", foppt er mich und ich schlage ihn empört.
"Blödmann", beschimpfe ich ihn lachend.

Auf dem Weg zu unserer Stammbar reden Mika und ich über Kitty. Ich habe ihn beim letzten Mal dermaßen vollgetextet, da fühlt es sich richtig an, ihn ein wenig schwärmen zu lassen.
"Du weißt ja, ich hab mega die Vertrauensprobleme bei Frauen, aber ich schwör's: Mit ihr ist alles anders. Allein, dass sie mich damals angesprochen hat, und nicht umgekehrt - Das macht was mit mir. Außerdem unterhalten wir uns über lauter Dinge, über die sich sonst keiner mit mir unterhält. Nicht mal du, oder Pari."
"Zum Beispiel?", hake ich interessiert ein.
"Letztens hat sie gefragt, was ich über Neid denke. Also als Emotion. Ob ich das kenne, wie ich damit umgehe, solche Sachen; philosophisches Zeug."
"Ich dachte immer, über sowas sprichst du nur ungern", gebe ich zu.
"Nicht, wenn einer das Gespräch aufzieht wie Kitty. Mit Geduld und Feingefühl." Mir schießt unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass ich die Menschen aus meinem näheren Umfeld vielleicht doch nicht wie meine Westentasche kenne. Maurice und Lea haben sich getrennt, ohne dass ich etwas davon geahnt habe; Mika kann einem philosophischen Schlagabtausch offensichtlich weit mehr abgewinnen, als ich je vermutet hätte - und dann ist da natürlich noch mein Freund, der mich über sein Vorhaben, sich professionelle Hilfe in Form einer Psychotherapie zu suchen, belogen hat. Mein Leben lang bin ich die Ansprechpartnerin Nummer eins meiner Freunde, oder zumindest bin ich davon immer ausgegangen. Was, wenn das gar nicht stimmt? Wie gut weiß ich wirklich über meine Liebsten Bescheid?
"Mika-Pika, erzählst du mir eigentlich alles Wichtige?", wechsle ich spontan das Thema. Mein Kumpel nickt.
"Dir und Pari. Wieso fragst du auf einmal? Das ist doch schon seit der Oberstufe so."
"Sparst du auch nie irgendwas aus, um uns zu schonen?" Mika schürzt die Lippen.
"Na ja, doch. Klar. Manchmal. Ich will dich ja nicht mit meinen Problemen zuballern, während du versuchst, deine eigenen zu lösen. Selbes gilt für Pari. Ihr hab ich ewig nichts erzählt, genau deswegen." Ich runzle die Stirn.
"Ich rede auch seltener mit ihr als früher."
"Sie ist irgendwie so ..." Er angelt nach dem passenden Wort, also warte ich ab. "Zerbrechlich", spuckt er es schließlich aus.
"Nachher rufe ich sie an, vielleicht braucht es eine Intervention unsererseits, damit sie wieder zugänglicher wird", überlege ich.
"Intervention?", wiederholt Mika fragend.
"Das ist eine Maßnahme, die man ergreift, damit eine Katastrophe noch rechtzeitig verhindert werden kann. Ich meine damit, dass wir Pari zu einem Krisengespräch ins Atopia bitten sollten."
"Keine schlechte Idee."

Da unsere Mitbewohnerin freitags immer ihre Schicht als Barkeeperin abarbeitet, sind Mika und ich im Atopia vorerst auf uns allein gestellt. Er hat sich eine Fassbrause geholt, nachdem ich meinen White Russian an der Selbstbedienungstheke entgegengenommen habe. Der Drink schmeckt klasse, aber ich frage mich, ob er nicht vielleicht doch die falsche Wahl gewesen ist. Immerhin verleibe ich mir hier gerade 4 cl Wodka und 2 cl Kaffeelikör ein. Mein Gewissen spricht zu mir, und zwar in Form von Tua, der mich unerwartet anruft. Ich entschuldige mich rasch bei Mika, bevor ich abhebe.

"Hi", begrüße ich meinen Freund.
"Hey", gibt er zurück. "Wo bist du? Was machst du?"
"Ich bin was trinken. Mit Mika, in unserer Lieblingsbar", sage ich ihm die Wahrheit. Wir sollten ehrlich zueinander sein. Ich möchte mit gutem Beispiel vorangehen. Von Tuas Seite aus höre ich ein Auto hupen. Es muss laut sein, wo er ist, denn er will erneut von mir wissen: "Mit wem?"
"Mika", spreche ich den Namen meines Kumpels deutlicher aus.
"Okay."
"Du findest das okay?", gleitet mir die erstaunte Rückfrage über die Lippen.
"Solange du mit Mika unterwegs bist, mach ich mir keine Sorgen. Ich weiß, er passt auf."
"Das schätzt du vermutlich ganz korrekt ein", erwidere ich schmunzelnd. "Wo bist du?"
"Draußen, mit den Jungs. Wir sind am Rosi. Momo muss bald los, aber Vadim und ich wollen noch was essen gehen."
"Grüße. Warum rufst du an?", forsche ich neugierig nach.
"Äh, ja ... Vorhin meinte Peggy, Sennheiser hätte mich morgen eingeladen, zu 'ner Store-Eröffnung hier in Berlin. Gibt wohl gratis Burger und ich darf jemanden mitnehmen. Hättest du Bock?"
"Gerne. Wenn du mich dabeihaben möchtest ...", schlage ich einen unschuldigen Ton an.
"Ich werde nur alle elftausend Jahre auf irgendwelche Promo-Events eingeladen. Natürlich will ich das mit dir teilen."
"Bisschen süß bist du ja manchmal doch", sage ich grinsend.
"Du mich auch, Iara."
"Gibt's einen bestimmten Dresscode?"
"Komm auf keinen Fall mega aufgetakelt. Die tischen Burger auf, also geh ich davon aus, dass das 'ne formlose Veranstaltung wird."
"Ich mach mich so hübsch wie's geht", verspreche ich.
"Du kannst da nicht nackt hingehen!", erwidert er gespielt entsetzt.
"Bis morgen, du Höhlenmensch", entgegne ich lachend.
"Ich hol dich gegen sieben bei euch ab. Grüß Mika."
"Mach ich, bye."
"Bye."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt