Pass auf dich auf

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Ich bin tief darin versunken, kunstvoll ineinander verschlungene Muster auf Tuas nackte Haut zu malen, als es an meiner Zimmertür klopft.
"Iara? Seid ihr wach?"
"Mika", hauche ich, und im selben Moment schießt es mir wieder blitzartig in den Kopf. Er hat sich gestern für mich stark gemacht, obwohl ich seinen Geburtstag ruiniert habe. Und heute Morgen, während meiner Streiterei und der anschließenden Versöhnung mit Tua, hat all das, was mein Kumpel für mich getan hat, keine Rolle gespielt. Ich habe einfach ausgeblendet, dass Mika mir einen riesigen Freundschaftsdienst erwiesen hat. In Windeseile schlage ich die Decke zurück und husche zu meinem Kleiderschrank. Tuas "Sei vorsichtig!" wird übertönt durch das Geklapper der Schranktür, die ich mit beiden Händen aufreiße, wie ich es immer tun muss, weil sie klemmt. Wahllos greife ich in das Fach meiner Unterwäsche.
"Eine Sekunde!", rufe ich und fluche auf einem Bein hüpfend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während ich in meinen Slip steige. Ein graues T-Shirt, das früher mal Tarik gehört hat, gerät zwischen meine fahrigen Finger und ich zerre es mir über den Kopf.
"Ich wollte nur kurz fragen, ob alles gut ist", macht Mika seine Intentionen klar. Ich schlüpfe in eine Jeans und öffne die Tür. Mein Mitbewohner macht prompt einen Satz rückwärts und verschüttet dabei fast seinen noch dampfenden Kaffee. Er blinzelt geschockt, dann deutet er auf meine Hand. "Du solltest den Verband wechseln." Überrascht lege ich die Stirn in Falten, doch als ich meine verletzte Hand vor mein Gesicht führe, kann ich verstehen, weshalb er guckt, als hätte ich gerade vor seinen Augen jemanden zersägt. So sieht das nämlich aus. Beziehungsweise, es sieht aus, als hätte mich jemand zersägt. Als ich aus dem Bett geklettert bin, habe ich meine derzeitige körperliche Einschränkung komplett ignoriert. Die Mullbinde hat unschön die Farbe gewechselt, von weiß zu rot. "Vielleicht muss das auch im Krankenhaus genäht werden", stammelt Mika. Ich schlucke und verberge meine Hand hinter dem Rücken.
"Seit wann kannst du kein Blut sehen?", versuche ich die Stimmung mit einem Scherz aufzulockern, aber Mika zieht bloß die Augenbrauen zusammen.
"Was willst 'n du mit der Frage andeuten? Deine Hand sieht einfach eklig aus."
"Stimmt", pflichtet Tua Mika bei. Missbilligend schnalze ich mit der Zunge und funkle ihn angriffslustig an.
"Suchst du Stress?" Er hebt in einer Unschuldsgeste die Arme über den Kopf.
"Yo, Mika", wendet er sich an meinen Mitbewohner. "Habt ihr schon gegessen?" Mika verneint. Tua setzt ein Lächeln auf. "Dann kümmere ich mich gleich ums Frühstück." Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass das nicht eine sehr süße Wiedergutmachung ist, die mein Freund da eben vorgeschlagen hat. Auch ich muss schmunzeln.
"Korrekt von dir", grinst Mika.
"Muss, Bruder." Tua grinst zurück. Ich nutze die Gelegenheit und schiebe Mika derweil aus dem Zimmer, damit Tua sich anziehen kann.
"Ich bin dir echt dankbar für gestern", beginne ich und mein Kumpel will bereits abwinken, da umarme ich ihn. "Nein, ehrlich. Danke." Er räuspert sich.
"Iara?"
"Hm?"
"Nimm mir das bitte nicht übel, aber ... Warum ist das eigentlich so schwer für dich, ihn dazu zu bringen, dass er dich so respektiert, wie du's verdienst? Ich meine, ich kenne ihn ja inzwischen, er liebt dich, gar keine Frage. Nur, wie kann es dann sein, dass er dich manchmal einfach so behandelt?"
Ich löse mich von ihm und sehe Mika an, der den Kopf leicht schiefgelegt hat. Er sieht völlig ahnungslos aus.
"Manchmal ist er nicht er selbst", seufze ich leise. "Hin und wieder durchlebt er so Phasen, weißt du?" Mika zuckt zögerlich die Schultern.
"Ich will nicht sagen, dass es das nicht wert ist. Ihr seid ja total glücklich miteinander. Ich hab halt gesehen, wie krass dich das in letzter Zeit belastet hat. Das war schon richtig offensichtlich."
"Wir haben darüber gesprochen", kläre ich ihn auf. "Über Grenzen; und darüber, dass eine Beziehung noch lange nicht bedeutet, dass wir ein und dieselbe Person sind." Mika nickt ernst.
"Du bist nicht seine Therapeutin, vergiss das nicht."
"Es ist verdammt niedlich von dir, dass du dir solche Sorgen um mich machst." Er kratzt sich verlegen am Kinn.
"Würde es dir was ausmachen, mir zur Abwechslung mal 'ne Weile keine Sorgen zu bereiten?" Ich lache.
"Ich kann's zumindest versuchen."
"Gut."
Hinter mir geht die Tür zu meinem Zimmer auf. Tua drückt mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange, dann verschwindet er in die Küche. Mika schaut ihm nachdenklich hinterher.
"Ich geh dann mal wieder zu Kitty", sagt er schließlich.
"Klar. Ich kümmere mich um den Verband."
"Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid", gähnt er.

Ein paar Minuten später schlinge ich beide Arme von hinten um Tua und schmiege meine Wange an seinen Rücken.
"Ich hab dich furchtbar vermisst", murmle ich und kann die Melancholie nicht unterdrücken, die in meiner Stimme mitschwingt. Tua stellt die Flamme am Herd runter. Das Omlett brutzelt munter weiter vor sich hin. Als er sich zu mir umdreht, wirkt er ein wenig konfus.
"Ich dich auch", höre ich ihn sagen, doch es klingt, als wäre er meilenweit entfernt. "Hannes hat dich zu seinem Geburtstag eingeladen", verkündet er dann dumpf und sofort stellen sich die Härchen auf meinen Armen auf.
"Da gehe ich aber nicht hin", widerspreche ich reflexartig.
"Er will mit dir anscheinend nochmal von vorn anfangen, seit er endlich gecheckt hat, dass er dich so schnell nicht loswird."
"Es wäre kein Problem für mich, ihn einfach zu meiden", murre ich.
"Für dich nicht, für mich aber schon irgendwie."
"Irgendwie?"
"Iara, Hannes ist nicht irgendein Bekannter, sondern einer meiner besten Freunde."
"Muss ich mich mit all deinen Jungs verstehen? Du sagst doch dauernd, dass es okay ist, wenn einen nicht jeder leiden kann", schmolle ich.
"Gib ihm eine letzte Chance."
"Wie viele letzte Chancen hast du ihm schon gegeben?", kontere ich und in Tuas Gesichtsausdruck verändert sich etwas. Hui, da habe ich wohl ins Schwarze getroffen. Mein Freund atmet aus, sein Blick schweift aus dem Fenster.
"Tut mir leid", murmle ich nach einer Weile.
"Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst", gibt er nach.
"Doch, ich komme mit", entscheide ich. "Ich will. Und ich bin nett zu ihm." Tua küsst mich liebevoll auf die Stirn. "Außer er ist ist scheiße zu mir, da kenn' ich nichts", füge ich noch hinzu und er lacht.
"Danke", flüstert er und lehnt seine Stirn gegen meine.
"Gern geschehen", erwidere ich und in diesem Moment meine ich es auch noch so ...

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt