Hochhäuser, Reihenhäuser

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Tua vergräbt die Hände in den Taschen seiner Jacke. Nach dem stillen Essen mit Ivanka, stehen wir jetzt vor der Gartenpforte und er atmet auf, sichtlich erleichtert, dass er sich nicht mehr im selben Haus aufhält wie sein sterbender Vater. Tua lässt meine Hand los. Drinnen ist er auf ungewohnt viel Körperkontakt aus gewesen, seit wir geredet haben. Er hat mich immer irgendwie berührt. Als wir für das Abendessen am Tisch zusammensaßen, habe ich sein Knie die ganze Zeit an meinem gespürt. Hier draußen ist er die vollständige Person, die er drinnen im Haus nicht sein kann. Ich bin sicher, er fühlt sich wie der kleine Junge, der von seinem Vater in die Luft geworfen wurde; aber da ist kein Glück in seiner Erinnerung. Nur schwarz-weiße Abhängigkeit von dem Mann, der ihn großgezogen und ihm alles mitgegeben hat, was ihn heute ausmacht. Er verliert diesen Menschen, der den Grundstein für seinen Charakter gelegt hat und im Umkehrschluss ist es, als würde ein Stück von ihm selbst sterben. Tua hat Angst, diesen Teil von sich zu verlieren. Kostja hat ihn geformt und geprägt. Ich muss ihm zu verstehen geben, dass sein Vater in ihm weiterleben wird. Die Frage ist nur noch, wie ich das genau anstelle. "Kann ich meine Zigaretten wiederhaben?", fragt er monoton.
Kühler Wind streicht durch mein Haar. Die Stille hier draußen ist trügerisch friedlich. Niemand ahnt, was in dem Haus hinter uns eigentlich passiert; nimmt den Geruch von Desinfektionsmittel und Medizin wahr, oder sieht den Ausdruck endloser Traurigkeit in Ivankas Augen, denn sie hat die Vorhänge zugezogen. Durch keins der weiß gerahmten Fenster könnten neugierige Blicke dringen. Kostjas Tod geht anscheinend niemanden etwas an.
"Die Flaschen unter dem Bett waren von dir, oder?", übergehe ich seine Bitte mit einer Gegenfrage. Und obwohl ich die Zigaretten vorhin eingesteckt habe, hole ich sie nicht raus. Nicht, bevor nicht geklärt ist, wessen Vorräte wir gleich nach unserer Ankunft vernichtet haben. Wenn es einen Fall von Alkoholismus in Tuas Familie gibt, ob erst seit kurzem oder schon länger, muss ich es wissen. Sofort. Ich werde nicht riskieren, dass er mich ein zweites Mal so ins offene Messer laufen lässt, weil er sich weigert, mit mir über seine Probleme zu sprechen, welcher Natur sie auch sein mögen.
"Meine, von früher", bestätigt er und streckt die Hand aus. Nicht, um mit mir Händchen zu halten. Er will die Schachtel.
Ich ignoriere seine eindeutige Geste absichtlich. "Du willst mir sagen, deine Mutter hätte nie beim Putzen den Alk entdeckt, den du dermaßen billig unter deinem Bett gebunkert hast?"
"Meine Mutter hat nie bei mir geputzt, ich musste in meinem Zimmer selbst staubsaugen und wischen." Er krümmt die Finger, deutet an, dass ich endlich die Kippen rüberwachsen lassen soll.
"Sie hat so getan, als wüsste sie von nichts." Es ist keine Frage, sondern eine bloße Feststellung.
Tuas Kiefer beginnen zu mahlen. Genervt zieht er die Hand zurück und schaut nach vorn. Wir gehen ein paar Schritte. Ich lasse ihn bockig sein, solange er es für nötig hält, es wird ihm eh nichts bringen. Als er realisiert, dass ich nur schweige, weil er mir mit seiner düsteren Aura gar nichts mehr kann, knickt er schließlich ein.
"Ich war kein guter Sohn, ich war ständig besoffen und bekifft. Mama hat mich dafür nie zur Rechenschaft gezogen und meinen Vater habe ich dauernd angelogen, deshalb bin ich heute auch so ein beschissen guter Lügner. Manchmal hat er mir nicht geglaubt, und einmal hat er mir eine runtergehauen, aber vor allem hat er mir dann immer vor Augen geführt, was ich nicht wahrhaben wollte: Dass meine Straßenehre nichts mit echter Ehre zu tun hat."
Wir biegen um eine unscheinbare Ecke, und plötzlich ragen Hochhäuser vor mir auf, Plattenbau, genau wie in Marzahn. Vorstadt, Süddeutschland-Edition. Unfassbar, wir waren doch noch keine drei Gehminuten unterwegs. "Wie ...?", murmle ich fragend und mein Blick klettert die graue Fassade hoch.
"Hier haben wir früher gewohnt", erklärt er überflüssigerweise, da ich mir das schon fast gedacht habe.
Tua führt mich durch die tiefe Straßenschlucht. Ich höre Hundegebell und Kindergeschrei und laute Musik. Alle Geräusche erscheinen mir vertraut. Ich sehe mich um, entdecke eine Pfandsammlerin, die ein braun gemustertes Kopftuch trägt und Mode aus dem Klingel-Katalog. An einem der Gebäude links von uns prangt ein hingeschmiertes Hakenkreuz. Nur einen Block weiter hat jemand auseinandergefaltete, befleckte Umzugskartons zu einer improvisierten Tanzfläche zusammengesteckt. Französischer Rap dringt aus einer Boombox, die wohl noch aus den Neunzigern stammt und eine Gruppe von Typen, die von ihrem Stil und Auftreten her bemerkenswerte Parallelen zu meinem Freund aufweisen, stehen in einem löchrigen Kreis drumherum, während einer von ihnen eine leidenschaftliche Breakdance-Einlage hinlegt.
"Mein Vater hat sein Leben lang geschuftet, damit wir irgendwann in eine respektable Gegend ziehen können", erzählt Tua. Er setzt sich auf eine einsame demolierte Bank, direkt neben einer Straßenlaterne, von der die blaue Farbe abblättert. Ich sinke neben ihn und atme ein. Typischer Fehler, wie konnte ich nur vergessen, wie Armut riecht. Nach Katzenpisse, Bier und Benzin.
"Sein Plan war so weit weg von diesem Ort wie nur möglich zu kommen." Tua hat die Beine ausgestreckt und ich lege eine Hand auf seinen Oberschenkel, während ich mit der anderen nach den Zigaretten wühle.
"Es hat Jahre gedauert, und dann konnte er sich trotzdem nur ein Reihenhaus knapp fünfhundert Meter entfernt von dieser heruntergekommenen Siedlung leisten, deren ganzer Stil mir längst in Fleisch und Blut übergegangen war, als wir umgezogen sind. Ich hing noch immer hier rum, mit meinen Freunden aus dem Block, hab die Schule geschwänzt, stattdessen Scheiße gebaut, vertickt, geraucht, Leute abgezockt ..." Ich drücke ihm die Schachtel in die Hand, doch er dreht sie nur zwischen den Fingern und sieht mir in die Augen. "Ich war für meinen Vater der lebende Beweis dafür, dass er versagt hatte. Trotz aller Anstrengungen, trotz all der harten Arbeit."
"Das glaube ich nicht", wiederspreche ich ihm.
Tua schüttelt den Kopf. "Ich wünschte, ich wäre verantwortungsbewusster gewesen und hätte einfach auf ihn gehört. Nur ab und zu. Vielleicht könnte er mir dann wenigstens verzeihen, bevor er stirbt."
Ich rutsche so nah es geht an ihn heran, nehme ihm die Packung Zigaretten nochmal aus der Hand und verschränke meine Finger mit seinen.
"Bitte", beginne ich leise. "Soll wirklich ausgerechnet das in deinem Herzen von ihm übrig bleiben? Der Gedanke, dass du eine Enttäuschung für ihn warst? Tu dir das nicht an."
Er legt einen Arm um mich und ich kuschle mich an ihn. Auf dieser ranzigen Bank, in diesem Elendsviertel. Es ist, als wäre ich wieder dreizehn.
"Was bringt es denn, mir da jetzt noch irgendwas vorzumachen, Iara?", fragt er mich. "Das ist nun mal die bittere Wahrheit und mein Vater liegt im Sterben, also kann ich mir genauso gut eingestehen, dass ich nie der Sohn war, den er verdient hätte."
"Das weißt du doch überhaupt nicht", halte ich dagegen.
"Ist das nicht egal?", fragt er mich verzweifelt. "Ich fühle das, reicht das nicht?"
"Dein Vater liebt dich und er ist stolz auf dich ist."
"Das weißt du doch überhaupt nicht", verwendet Tua meine eigenen Worte.
"Doch, ich weiß es. Schau nicht weg und du wirst sehen, was ich meine. Hör auf, dich der Möglichkeit zu verschließen, dass die Menschen, die du liebst, dich zurücklieben. Bei mir weißt du's genau. Öffne dein Herz und lass die Liebe zu." Nachdem ich meinen Monolog beendet habe, küsse ich ihn. "Du verdienst sie und, wenn du ehrlich und freundlich zu dir selbst bist, spürst du, dass du sie brauchst", füge ich hinzu.
Tua atmet bedächtig aus und hebt mich auf seinen Schoß. So viel Nähe. "Ich liebe dich", flüstere ich.
"Ich dich auch", erwidert er es und umarmt mich. Ich spüre seine Tränen an meiner Wange und streichle seinen Rücken, ohne ihn darauf anzusprechen. Für den Moment soll er seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Das ist okay. Es ist sogar gut so.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt