Gefühle zeigen

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Wie eh und je lauscht Tua aufmerksam all meinen Ausführungen darüber, dass ich an meinen Fähigkeiten in Sachen Freundschaft zweifle. Ich stelle infrage, ob ich Professionelles und Privates gut voneinander trennen kann, enttarne Luks Ausraster als Ursprung meiner Gewissensbisse, und als wir vor seinem Wohnhaus halten, ist ein Wunder geschehen. Denn ich habe mich beruhigt.
Ich schalte den Motor aus und sehe ihm still in die Augen, bevor ich mich über die Mittelkonsole lehne und ihn küsse. Seine Nähe tut mir gerade wahnsinnig gut.
"Wie machst du das nur?", frage ich ihn leise, als ich mich von ihm löse. Tua sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ich war völlig fertig und unendlich verwirrt. Und jetzt sehe ich die Dinge auf einmal wieder klarer", erkläre ich.
"Warum überrascht dich das? Geht mir doch mit dir genauso, wenn ich mich öffne." Er zieht mich für einen weiteren Kuss zu sich, doch in meinem Hinterstübchen pocht es unangenehm. Ich nehme mich zurück, beiße mir auf die Unterlippe. Mein Freund hat allerdings Adleraugen in solchen Momenten, so war das schon immer. "Was ist?", hakt er neutral nach.
"Nimm mir das bitte nicht übel ...", beginne ich, doch der Rest des Satzes bleibt mir in der Kehle stecken. Tua schmunzelt unsicher.
"Mach doch nicht diesen", amüsiert er sich, trotzdem bemerke ich seine unterschwellige Nervosität. Zärtlich streichelt er meine Wange. "Ich nehme dir nichts übel, Kíßa, und jetzt raus damit."
"Ich -" Ich muss schlucken, spüre, wie die Tränen kommen und fühle seine Lippen, die sanft meine Stirn berühren. "Es überrascht mich, weil ich mich nie darauf verlassen habe in unserer Beziehung. Bis jetzt. Ich war mir nie sicher, ob du für mich da sein kannst, wenn ich dich brauche. Aber jetzt sagt mir mein Bauchgefühl, dass es geht. Und das ist irgendwie schön. Ich will darauf hören, aber ..."
"Es geht nicht mehr", vervollständigt er meinen Satz und ich nicke niedergeschlagen. Mein Vertrauen in ihn ist massiv gesunken. "Hey, ich kann das nachvollziehen, okay? Ich hätte dir öfter zeigen müssen, dass du nicht allein in dieser Beziehung bist und dass das hier uns gehört. Dir, aber auch mir. Ich bin genauso in der Verantwortung dafür, dass es zwischen uns gut läuft, wie du. Und ich habe diese Verantwortung oft missachtet. Es ist verständlich, dass dein Vertrauen zu mir darunter gelitten hat. Das tut mir auch weh -"
"Eben das wollte ich nicht", rufe ich panisch dazwischen. "Du hast genug Baustellen, aber unsere Vertrauensbasis sollte keine sein, bitte."
"Nein, hey." Er stabilisiert mein Kinn mit der Handkante und gebietet mir so, ihn anzuschauen. "Iara, du kannst nichts für meinen Schmerz. Ich habe dein Vertrauen verspielt und ich will nicht, dass du dich schuldig deswegen fühlst, okay? Schuld ist hier nicht das Thema. Ich versuche, Verantwortung zu übernehmen und das ist hart für mich. Aber eines Tages hört mein Leiden auf. Dann werde ich dein Vertrauen zurückgewonnen haben. Und dass ich mittlerweile daran glaube, dass es mir überhaupt besser gehen kann, habe ich unter anderem dir zu verdanken. Ich schätze deine Ehrlichkeit gerade. Es war wichtig, dass du das mal ausgesprochen hast, verstehst du? Ich kann damit umgehen." Noch immer leicht verängstigt, blicke ich in seine schönen Augen, in denen sich mein ganzes Universum spiegelt.
"Es ist schrecklich, dass du so leidest", flüstere ich. Tua streicht eine meiner Locken hinter mein Ohr.
"Ich weiß. Aber nichts davon hat irgendwas mit dir zu tun, und wenn du das Gefühl hast, du ziehst dir zu viel von meiner Negativität rein, dann lass es mich wissen. Ich verspreche dir, ich gehe dann ein bisschen auf Abstand. Heilen muss ich eh allein."

Nach dieser Aussprache betreten wir Hand in Hand in sein Wohnhaus. Auf der Treppe kommt uns überraschend Frau Felder entgegen.
"Iara, Johannes!", ruft sie fröhlich aus, wenn auch nicht sehr laut. Für eine alte Dame hat sie ein verdammt gutes Gedächtnis. Ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass sie sich an meinen Namen erinnern würde. Aber dann fällt mir ein, dass Tua vielleicht immer mal wieder etwas von mir erzählt hat, wenn er seiner Nachbarin mit ihrem Wocheneinkauf geholfen hat.
"Hallo", begrüße ich sie freundlich.
"Frau Felder." Auch mein Freund hat ein Lächeln aufgesetzt. Er streckt seine Hand in ihre Richtung aus. "Geben sie mir fünf?", fragt er und ich kichere darüber. Frau Felder strahlt.
"Macht man das auch zur Begrüßung?", fragt sie ihn neugierig.
"Manchmal", meint Tua. Sie schlägt mit ihm ein, was extrem niedlich aussieht. Ich entscheide mich für eine leichte Umarmung und sie lächelt mich an.
"Möchten Sie beide vielleicht spontan auf eine Tasse Tee und ein Stück Hefezopf zu mir kommen?" Tua schaut zu mir und ich zucke die Schultern. "Es wäre schön, denn, wissen Sie, ich habe Neuigkeiten." Ihr Gesichtsausdruck verändert sich und sie sackt ein Stück in sich zusammen. Ich wechsle einen besorgten Blick mit meinem Freund.
"Kommen Sie", sage ich und lege meine Hände auf ihren Schultern ab. "Wir haben Zeit."

In Frau Felders Wohnung riecht es nach Mottenkugeln. Alle Möbel sind im Stil der Achtziger gehalten. Ich habe mich zusammen mit Tua auf die Couch gefläzt. Er starrt auf eine Porzellanfigur. Hier steht viel Nippes rum, aber überladen ist es nicht. Frau Felder hält Ordnung.
Ich nehme ihr die Teekanne aus der Hand, denn ihre Hände zittern, als sie uns einschenken möchte.
"Oh, vielen Dank, Liebes", haucht sie. Ich bedenke sie lediglich mit einem aufmunternden Lächeln. "Ich wollte gerade meine Post holen, da sind Sie reingekommen. Das muss ich später dringend erledigen", lässt sie uns an ihren Gedanken teilhaben. Tua schnappt sich derweil ein Stück vom Hefezopf. Anders als die Kekse, die Frau Felder sonst zum Tee anbietet, ist der nicht steinhart, sondern durchaus genießbar. "Diese Wohnung ist sehr lange mein Zuhause gewesen." Ich spüre, wie mein Freund neben mir erstarrt. Mit einem unguten Gefühl im Bauch, lege ich eine Hand auf sein Knie. "Aber mein Sohn sagt, es ist Zeit, dass ich jetzt an einen Ort ziehe, wo man mich im Blick hat", fährt sie fort.
"Er will sie ins Pflegeheim abschieben?", knurrt Tua.
"Ich habe mich mit ihm besprochen. Eine Tagesbetreuung für mich zu engagieren würde bedeuten, dass er eine große finanzielle Last auf sich nimmt." Ich weiß, was Tua sagen will. Dass er alles Geld der Welt für seine Mutter in die Hand nehmen würde.
"Können Sie sich denn vorstellen, in so einer Einrichtung zu leben?", will ich wissen, bevor er bissig über ihren Sohn herziehen kann. Frau Felder hebt die Schultern und lässt sie schlaff wieder sinken.
"Es gibt Dinge, die kann man von seinen Kindern nicht verlangen. Das werden Sie selbst noch verstehen, sobald Sie welche haben." Mein Freund bleibt regungslos, doch ich nicke. Ich würde meine Mutter und Thoralf bis ins hohe Alter pflegen, sofern es das ist, was sie wollen. Meine Schwester würde mich auf jeden Fall unterstützen. Aber ich weiß, dass nicht jeder da so gestrickt ist wie wir. Mika zum Beispiel. Ihm würde ich diese Aufgabe nicht zutrauen. Nicht, weil er hartherzig wäre. Ganz im Gegenteil. Sein Verhältnis zu seiner Mutter ist gut, aber ich glaube nicht, dass er nochmal in irgendeine Abhängigkeit eintreten möchte, die ihn an sie bindet. Oder umgekehrt.
Tua schluckt hörbar. Sofort weiß ich, er denkt an seinen Vater. Ivanka hat ihn zu Hause gepflegt, weil er dort sterben wollte. In dem Haus, für das er so hart gearbeitet hat ...
"Sie wollen doch gar nicht weg", behauptet Tua neben mir und ich höre den Schmerz aus seiner Stimme raus.
"Nein, das will ich nicht", bekennt sie traurig.
"Ist es denn ein Pflegeheim hier in Berlin?", klinke ich mich ein. Frau Felder nennt uns eine Adresse, nur wenige S-Bahnstationen entfernt.
"Ich besuche Sie dort", verkündet Tua, ehe ich es vorschlagen kann. "Einmal in der Woche."
"Bitte machen Sie sich keine Umstände, Johannes", versetzt seine alte Nachbarin und ich beobachte, wie sie ein Tränchen verdrückt. Davon werden auch meine Augen wieder feucht.
"Nein, das macht keine Umstände", erwidert er mit fester Stimme.
"Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles", sagt sie leise. Er lacht, schnieft im nächsten Moment und wendet den Kopf kurz zum Fenster, atmet tief durch.
"Frau Felder, bringen Sie mich nicht zum Weinen", bittet er sie lächelnd. "Sie werden mir fehlen."
"Sie werden mir auch fehlen." Sie angelt nach ihrem Stoff-Taschentuch und schnäuzt sich die Nase. "Du liebes Bisschen", seufzt sie. "Ich habe nicht damit gerechnet, dass es ein so emotionaler Abschied werden würde."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt