She said, he said

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Nachdem wir unsere Probleme fürs Erste erfolgreich verdrängt haben, sinke ich heute zum zweiten Mal auf den Beifahrersitz. James Blake lasse ich verstummen. Auf meiner Box spiele ich Musik ab, die ich tatsächlich höre, switche zwischen vom überwiegenden Rap zu völlig anderen Genres: Pop, Klassik, Rock, Indie, Jazz.
"Ich habe mit Schlimmerem gerechnet", bezieht sich Tua auf meine Songauswahl und ich strecke ihm die Zunge raus. "Du bist nicht der Einzige, der es raushört, wenn Leute nur Musik machen, weil sie reich werden wollen. Sowas unterstütze ich nicht."
Er lächelt undefinierbar und ich erwidere es. "Iara?", fragt er.
"Hm?", murmele ich undeutlich, denn ich bin längst wieder in meine Playlist vertieft.
"Manche Menschen werden immer beschissener und unsympathischer, desto besser man sie kennenlernt", sagt er. "Du nicht."
Überrascht blicke ich auf, doch seine Augen sind vorbildlich auf die Straße gerichtet. "Danke", bringe ich irgendwie raus und räuspere mich. "Du auch nicht."
Er nimmt meine Hand, ohne mich dabei anzuschauen, und verschränkt seine Finger mit meinen. Das ist völlig normal unter Paaren. Wieso fühlt es sich trotzdem so seltsam an?
Als der Regen noch stärker auf die Windschutzscheibe prasselt, ahne ich es plötzlich. Es ist ungewohnt für mich, weil das Tua und ich sind, die in diesem Auto sitzen und dabei Händchen halten, während er mir Komplimente macht. Wir tun diesen konventionellen Pärchenkram sonst kaum.
"Vielleicht war es ganz gut, dass Hannes gestern aufgetaucht ist", spreche ich aus, was mir gerade durch den Kopf schießt.
"Wieso?" Tua blinzelt perplex.
"Ich weiß nicht, wie schlecht dein Gewissen sein muss, wenn du schon meine Hand nimmst, während du Auto fährst. Einfach so", nicke ich in Richtung unserer verschlungenen Finger.
Seine Kiefermuskulatur spannt sich minimal an. "Was hat er dir gesagt? Dass ich meine Zuneigung für dich nicht zeige, weil ich keine empfinde?"
Damit trifft er voll ins Schwarze. "Ehe ich dir davon erzähle, was er zu mir gesagt hat, will ich verstehen, warum er dein Freund ist. Er ist dir wichtig. Du regst dich über ihn auf, aber er bedeutet dir viel", analysiere ich ungefragt die Beziehung der beiden.
"Das bringt Liebe so mit sich, Iara, platonisch hin oder her", philosophiert er.
"Du liebst ihn also platonisch, damit kann ich etwas anfangen", ermutige ich ihn. "Er passt auf dich auf und das findest du anstrengend, aber das ist einer der Gründe für deine Dankbarkeit, die dich an ihn kettet."
"Absolut", bestätigt er. "Aber sag nicht ketten, es ist kein Zwang."
"Stimmt", nicke ich. "Das ist bloß der Ursprung eurer Verbundenheit."
Tua wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. "Was denkst du, verbindet mich sonst noch mit ihm?"
"Ich stelle hier die Fragen", wehre ich ab. "Sag du's mir."
Mein Freund zieht die Nase kraus, dann erwidert er: "Neben der Dankbarkeit ist mein Interesse an ihm als Mensch riesig. Er ist spannend, hat richtig Tiefgang. Unter seiner rauen Oberfläche, an der so gut wie alles abprallt, liegt diese Ebene, die übertrieben fürsorglich, freundlich, loyal und hyperintelligent ist. Ich habe kapiert, dass ich mich mit ihm anfreunden muss, als ich gesehen habe, dass er die krassesten Texte schreibt. Der Typ ist ein Künstler, kein Scherz. Er hat die Mappe mit seinen losen Blättern in der Trainingstasche transportiert, ich stieß zufällig drauf, als er mich bat, ihm sein Handtuch zu geben. Es hatte Songcharakter, war teilweise aber zu überzogen und sperrig für das Format. Genau meine Ästhetik, ein Text wie ein Foto in schwarz-weiß, schlicht, clean. Ich glaube, es geht ihm richtig beschissen, seit er die Fragmente verbrannt hat. Bevor du fragst, nein, ich habe keine Ahnung, wieso er das gemacht hat. Angeblich will er nicht mehr schreiben, er behauptet, dass es ihn nervt. Ich glaube, er tötet nur seine Begabung, weshalb auch immer. Talente, die dir gegeben werden, nimmt man dir wieder, wenn du keinen Gebrauch von ihnen machst, das weiß Hannes und er will seine Begabung loswerden."
"Er unterdrückt seine Kreativität?", hake ich nach.
"Er ertränkt sie."
Die Doppeldeutigkeit des Wortes ist garantiert kein Zufall.
Todesmutig entschließe ich mich, ihn nach einer Sache zu fragen, die ich unberührt gelassen habe, seit er mich darüber aufgeklärt hat. "Trinkst du deswegen nicht?"
"Ja", gibt er endlich zu, was der eigentliche Grund für seine Alkohol-Abstinenz ist.
"Ich sehe ihn und -" Er bricht ab, der Schmerz ist ihm ins Gesicht gemeißelt. "Wir haben eine Menge durch miteinander."
Das ist pure Verlustangst. "Wäre mir nicht aufgefallen", gebe ich trocken von mir.
"Ich denke dauernd daran, wie wir uns geprügelt haben. In der Woche, bevor er rein ist."
Ist also erst ein paar Monate her. "Schöne Assoziation." Trotz des ironischen Tonfalls lege ich besorgt die Stirn in Falten.
"Wir haben über die fehlende Offenheit in unserer Freundschaft gestritten und es ist ausgeartet. Momo hat uns voneinander getrennt. Hannes ist mit 'nem blauen Auge davongekommen, ich mit 'ner dicken Lippe. Früher waren wir seltener über Kreuz miteinander; ich wünschte, ich wüsste, was ihn so wütend macht. Irgendwas aus seiner Vergangenheit holt ihn gerade ein, schätze ich."
"Hast du eine Vermutung, was das sein könnte?"
"Keine", schüttelt er den Kopf. "Hannes ist damals wie aus heiterem Himmel im Boxclub aufgetaucht, er war eines Tages einfach da und weil wir in dieselbe Gewichtsklasse fallen, hat uns Dario zu Trainingspartnern ernannt. Ich weiß nur, dass er keinen Kontakt zu seiner Familie hat, seine Ex-Freundin ein unanfechtbares Tabuthema ist und er von seinen aktuellen Freunden mich, Momo und Vadim am längsten kennt. Es ist, als hätte er davor überhaupt nicht existiert."
"Ich seh schon." Zischend atme ich aus. Wahrscheinlich klinge ich wie eine alte Dampflokomotive. "Du weißt genauso wenig über seine Vergangenheit wie ich über deine."
"Sei vorsichtig, du trittst mein Vertrauen gerade mit Füßen", merkt er monoton an. "Du weißt immerhin von der Abtreibung."
Ich zögere. "Lässt du mich kurz unsensibel sein, damit wir zum Kern der Geschichte vordringen? Ich würde den Einwand gern übergehen."
Er wirkt nicht begeistert, dass ich die Abtreibung unter den Tisch kehre, protestiert aber genauso wenig.
"Du hast echt keinen blassen Schimmer, was den Einschnitt in seinem Leben ausgemacht hat, oder?", frage ich sanft.
"Null", bestätigt er.
"Hör mal, Tua", räuspere ich mich. "Hannes hat mir gestern erzählt, wie du ihm gegenüber von mir gesprochen hast. Und es tat weh, mir das anzuhören. So sehr, dass ich es gar nicht wiederholen will."
"Das tut mir wirklich leid, okay?" Er drückt meine Hand, die er nach wie vor festhält.
"Du hast 'ne große Klappe, passt schon", winke ich ab. "Das Ding ist eher, dass du mir einen Ausschnitt von dir zeigst, der dich als wundervollen Menschen in Szene setzt. Du hast mir nicht erzählt, dass Mascha mit dir Schluss gemacht hat, weil du sie betrogen hast. Selbst als du's wusstest, weil sie dir das Foto des Detektivs gezeigt hat, hast du dich dagegen entschieden, ehrlich zu mir zu sein. Du hast mich angelogen, um deinen Arsch zu retten. Mir ist an dem Abend klargeworden, dass du das mit hoher Wahrscheinlichkeit da nicht zum ersten Mal getan hast. Was Hannes gestern zu mir gesagt hat, unterstützt diese These."
"Nein, nein, nein", betet er leise vor sich hin. "Ich wollte dich schützen, weil ich noch nicht bereit war, dir von diesem Kind zu erzählen. Hätte ich den Mund an dem Tag aufgemacht, hätte mich die Schuld erdrückt."
"Aber wir waren zusammen, zu zweit hätten wir das gestemmt", versuche ich ihn zu überzeugen. "Ich habe dich geliebt, ich hätte dir die Last von den Schultern genommen, wenn du mich nur gelassen hättest."
Tua antwortet nicht. Den Gedanken, der ihn gerade ereilt, scheint er schon eine Weile nicht mehr zugelassen zu haben. Merkwürdig, er reflektiert ständig. Kaum etwas würde ihn dermaßen aus dem Konzept bringen. Es sei denn ... "Oh mein Gott", fällt es mir wie Schuppen von den Augen. "Ich habe dich geliebt. Du mich aber nicht."
"Iara", setzt er an. "Ich -
"Die Hälfte unserer Beziehung war eine Lü-"
"Nein, ich habe dich nicht angelogen", unterbricht er mich scharf. "Ich habe damals etwas gefühlt, was ich für Liebe in der nicht platonischen Variante hielt. Es war stinknormales Glück, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Immer wenn ich glücklich war, habe ich behauptet, ich würde dich lieben. Selbst wenn ich unglücklich war, weil du wenig gegessen hattest, und ich mich nur nach Glück gesehnt habe, waren das die Worte, die mir in den Sinn kamen. Ich kannte gar keine Liebe in diesem Sinne."
"Versuch jetzt nicht mich zu manipulieren!", keife ich. Mein Herz steht unmittelbar davor, in tausend Teile zu zerbersten. Hoffentlich bohrt sich ein heißer Splitter in den Eisklotz, den er anstattdessen in der Brust trägt.
"Dich manipulieren?" Nun lässt er den verwirrten Blick doch eine geschlagene Sekunde zu mir schweifen.
"Ich weiß nicht, was ich glauben soll oder wem, Tua." Gleich verwandelt sich meine Stimme in ein Schluchzen. "Dauernd erfahre ich von anderen Leuten Dinge aus deiner Vergangenheit, von deinen Frauengeschichten, deinen Aggressionen. Und deinen Lügen; von so verdammt vielen Lügen."
"Okay, weißt du was?" Er lenkt uns auf einen größeren Rastplatz mit Tankstelle samt integriertem McDonald's und steigt aus. Ich beobachte gebannt, wie er um das Auto herumgeht, die Tür bei mir auf der Seite öffnet ... Das Regenwasser perlt von seinen Wangen, hängt in Tröpfchen an seiner Nasenspitze. Er sieht mir für eine Zeitspanne, die eine Ewigkeit zu beschreiben scheint, tief in die Augen ... "Steig aus", fordert er mich auf.
"Es regnet", fiepe ich hilflos.
"Steig aus!"

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt