Teddy-Therapie

72 11 3
                                    

Mir bleibt der Mund offen stehen, nachdem Maurice mir gerade ohne mit der Wimper zu zucken erzählt hat, er und Lea hätten sich voneinander getrennt. Völlig geschockt drehe ich Tarik den Kopf zu. Ich sitze zwischen den beiden Jungs auf der Couch im Bunker, denn als ich vorhin in der Konzertagentur Feierabend gemacht habe, hat Tua mir eine lieblose Nachricht geschickt, dass er sich heute Abend mit Momo um die Location für Hannes' Geburtstag kümmert. Die Zeit in Reutlingen bei der Mutter meines Freunds liegt inzwischen fünf Tage zurück. Ivanka ist zum Glück nicht auf sich allein gestellt. Sie wohnt vorübergehend bei ihrer Schwägerin, die gleichzeitig ihre beste Freundin ist, was sich gut trifft, denn nach dem Tod ihres Mannes kann sie jede Form von Unterstützung gebrauchen.
"Jetzt guck nicht wie ein Schaf, Sonnenschein", ermahnt Tarik mich lachend. "Es stimmt, Lea und Maurice haben sich getrennt ... Sag mal, wo hängst du denn gerade in Gedanken?", fügt er noch hinzu.
"Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass ihr euch auseinandergelebt habt", wende ich mich an Maurice, der mich leicht spöttisch angrinst und einen Schluck trinkt, bevor er erwidert: "Du musst auch nicht immer alles mitkriegen, Iara. Wir sind zwar befreundet, trotzdem ist es okay, dass du nicht jedes Detail meines Privatlebens kennst."
"Deine festen Beziehungen waren immer schon Meilensteine in deinem Leben, das sind keine Details", knurre ich und stehe auf. "Noch einer Bier?", frage ich. Die beiden schütteln synchron den Kopf. Ich begebe mich also allein ins Lager. Der kleine, quadratische Raum wird bloß von einer nackten Glühbirne ausgeleuchtet, die flackert. Ich beuge mich über eine der Kisten und fische eine Molle heraus, die Sorte ist mir egal, ich brauche einfach irgendwas zu trinken gerade. Ein Klopfgeräusch lässt mich aufschauen. Tarik lehnt im Türrahmen und mustert mich abwartend aus seinen braunen Augen. Weil ich nicht wirklich weiß, wo ich anfangen soll, deute ich zur Decke. "Die Funzel müsst ihr irgendwann mal auswechseln."
Mein Kumpel ignoriert die Bemerkung und stellt sich mir in den Weg, als ich mich mit der Flasche in der Hand an ihm vorbeischieben will. Er berührt mich am Arm. Ich versuche die restliche Anspannung beim nächsten Ausatmen herauszulassen, dann atme ich wieder ein, fahre mir dabei mit einer Hand durch meine Locken und stelle fest, dass ich noch immer unter Strom stehe. Sobald ich irgendwoanders hinschaue als in Tariks Gesicht, werde ich wieder kopflos und da ist nur das Gefühl, das mich zu zerquetschen droht wie Laufschuhe einen wehrlosen Käfer.
"Erklär mir, warum du die letzten Tage so oft saufen willst", fordert Tarik mich auf und nickt zu der Bierflasche, die ich mit der Linken umklammere und genau vor mich halte. Ich muss wohl in meinen Nachrichten ein paar Mal zu oft erwähnt haben, dass ich mir noch ein Feierabend-Bier gönnen werde, und das fast jeden Abend, seit ich zurück in Berlin bin. Nie viel und auch nichts Hartes, aber konstant. Bier von Montag bis Freitag. Ich starre auf den Kronkorken der Flasche und das Logo der Marke verschwimmt plötzlich vor meinen Augen.
Sind das Tränen? Oh Gott, bitte nicht schon wieder - Seit ich zurück in Berlin bin, habe ich außerdem jeden Tag geheult. Nie viel, aber konstant.
"Hey." Tarik schnipst vor meinem Gesicht mit den Fingern. "Raus mit der Sprache." Als ich nicht mehr rausbringe als ein leises Schniefen, zieht mein bester Freund mich in seine Arme und ich kralle mich automatisch in sein weißes T-Shirt.
"Ich hab solche Angst, dass Tua mich verlässt", gestehe ich, nachdem ich mich eine Weile stumm an seiner Schulter ausgeweint habe.
Tarik seufzt. Innerlich. Ich kann es nicht hören, aber ich merke es daran, wie sein Körper kurz erstarrt.
"Das macht er nicht, und falls doch, dann breche ich ihm alle Knochen, denn wenn er so ein Schwächling ist, dann hat er dich nicht verdient."
"Rede nicht so schlecht über ihn, er ist dein Freund", verteidige ich Tua nuschelnd. (und) Tarik schiebt mich ein Stück von sich weg.
"Stimmt genau. Und ich setze all mein Vertrauen in ihn, was anderes bleibt mir nicht übrig - und dir auch nicht."
Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Warum kann ich Tua nicht vertrauen, wie Tarik? Ich liebe meinen Freund und diese Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft. Mir schießt die Szene durch den Kopf, als wir auf der Autobahnraststätte parken und ich ihm genau das sage: dass ich ihn liebe, seine guten und seine schlechten Seiten. Das ist nach wie vor so, aber ich beginne langsam zu kapieren, dass Tuas schlechte Seiten wirklich kein Zuckerschlecken in einer Beziehung sind.
"Er vermittelt mir das Gefühl, dass ich ihm zur Last falle", spreche ich aus, was ich in diesem Moment realisiere. "Vorhin hat er mir kurz vor Feierabend eine Nachricht geschickt, dass ich nicht zu ihm fahren soll, weil er gar nicht zu Hause ist." Tarik verdreht die Augen.
"Du verdienst seinen Zweitschlüssel schon seit einer Ewigkeit, sag ihm das mal und bestell ihm dabei noch 'nen schönen Gruß von mir."
"Das ist doch aber egal", ärgere ich mich über seinen berechtigten Einwand. "Wo ich heute Nacht penne, ist mir schnurz. Was mich stört ist, dass es Tua vollkommen gleichgültig ist, wie ich momentan meine Freizeit verbringe." Ich hebe die Bierflasche hoch und Tarik schielt irritiert darauf. "Er fragt mich nicht, wieso ich trinke. Er hockt einfach neben mir und kifft sich die Birne weg. Das Wieso interessiert ihn überhaupt nicht." Mitten im letzten Satz bricht meine Stimme. "Er redet nicht mit mir, ich hab's tausendundeinmal versucht. Und ich würde es wieder und wieder versuchen, für ihn, weil ich ihn liebe." Ich schließe die Augen und die Worte fließen ohne jeglichen Feinschliff aus mir heraus. "Aber ich kann nicht mehr, Tarik. Er lässt mich leiden, und er weiß, dass es falsch ist und trotzdem quält er mich weiter." Zittrig hole ich Luft. Tarik sieht mir in die Augen. Ich starre nervös zurück, während er mir langsam die Bierflasche abnimmt.
"Ich rede mit ihm", verspricht er.
"Du solltest dich nicht um meine Beziehungsprobleme kümmern müssen", lehne ich sein Angebot indirekt ab, doch mein Gegenüber schüttelt bloß den Kopf.
"Ich kümmere mich hier um gar nichts, und ich will mich auch nicht in eure Beziehung einmischen. Tua ist derjenige, der sich in den Griff kriegen muss, es ist harte Arbeit, ihn immer wieder darauf hinzuweisen. Das kann nicht alles nur an dir hängenbleiben. Wie du schon sagtest, er ist mein Freund und er braucht Hilfe, obwohl er von selbst zurzeit wohl niemanden darum bitten würde, wenn er sich noch nicht mal dir anvertraut."
"Er redet seinen Kummer vor sich selbst klein und lässt die Trauer über den Tod seines Vaters nicht nah genug an sich heran, damit er sie endlich aufarbeiten kann", gebe ich die Ergebnisse meiner Analyse von Tuas Innenwelt an Tarik weiter. Er kann gerade mehr damit anfangen als ich, ich bin zu erschöpft, mich weiter um meinen Freund zu kümmern. "Am liebsten wäre er nie in diese Situation geraten. Tua wünscht sich, er hätte den Tod seines Vaters nie hautnah miterlebt; denn er kann nicht leugnen, was passiert ist, er war ja dabei ... Aber er klammert sich verzweifelt an Erinnerungen und Vorstellungen." Ich schlucke. "Das Schlimmste für ihn ist, dass er weiß, wie die Realität aussieht; dass er weiß, er macht sich nur etwas vor. Sobald er akzeptiert, dass sein Vater gestorben ist, ist er wirklich tot."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt