Ruqayyah

46 5 0
                                    

Tua und ich haben beschlossen, über den Streetfoodmarket auf dem Gelände der Kulturbrauerei zu schlendern. Nachdem wir jeder eine Portion Zucchini-Fettuccine verdrückt haben, stehen wir jetzt am Churros-Stand und tunken die frittierten Teigwaren immer abwechselnd in unsere dickflüssige heiße Schokolade. Dazu stehen außerdem zwei Becher aus Ton vor uns. Der frische Tee darin dampft.
"Du hast mich ja gefragt, was mich vorhin getriggert hat", beginnt Tua unvermittelt zu erzählen, so wie er es mir versprochen hat. Ich blinzle überrascht, nicke dann aber rasch, um zu signalisieren, dass ich ihm zuhöre. "Also, es war so." Er atmet aus, zieht die Nase hoch und schließt seine Jacke. "Bartek hat einen Text geschrieben. Einen verdammt guten Text, und die Jungs sind sich sofort einig gewesen, dass der unbedingt aufs Album soll."
"Du warst dagegen?" Tua presst kurz die Lippen aufeinander und trinkt einen Schluck von seinem Tee.
"In dem Text", fährt er zögerlich fort, "geht es nicht um Bartek. Was er darin erzählt, ist nicht ihm passiert." Ich habe eins und eins bereits zusammengezählt, als Tua meinen Befürchtungen verbal Ausdruck verleiht. "Das, was er da beschreibt, hat er nicht getan. Ich war das. Er war nur Zeuge."
"Und ...", hake ich vorsichtig ein, als er nicht mehr weiterspricht. "Wovon schreibt Bartek?" Mein Freund schluckt und schlägt einen unerwarteten Bogen.
"Ich bin mit Mascha zusammengekommen, als sie schwanger von mir war. Meinen Job auf dem Bau hatte ich verloren, deswegen hatten wir gesoffen und sie ist auch nur deswegen überhaupt erst in meinem Bett gelandet. Jedenfalls blieb mir keine andere Einnahmequelle. Es gab nur die Band so wirklich. Zum Glück stand die Tour ins Haus. Das war meine einzige Chance Kohle für dieses Kind zu verdienen. Ich bin also mitgefahren und hab zu Mascha gesagt, sie soll sich das alles in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ob sie dieses Baby will oder nicht. Dass ich für sie da sein werde, egal, wie sie sich entscheidet - und dass wir auf jeden Fall zusammenbleiben. Das Letzte musste ich ihr sogar versprechen. Ihre größte Angst zu dem Zeitpunkt war, dass ich sie vielleicht verlasse, weil sie eine Entscheidung trifft, mit der ich dann nicht einverstanden bin." Jetzt bin ich diejenige, die schluckt. Am Ende sind Maschas Ängste zur bitteren Realität geworden. Tua hat sie zwar nie verlassen ... Das hat sie schon selbst getan, als sie über einen Privatdetektiv, den sie engagiert hatte, von seiner Affäre mit Jess erfahren hat. Trotzdem ist er unglücklich gewesen in seiner letzten Beziehung. Er wäre für immer unglücklich mit ihr gewesen. Ich an Maschas Stelle hätte das wohl nicht halb so lange ausgehalten wie sie. Andererseits kannte ich Tua damals ja noch gar nicht. Wäre schon möglich, dass ich ihn auch dafür hätte quälen wollen, wie er sich zu der Zeit aufgeführt hat.
"Darüber hat Bartek aber doch nicht geschrieben, oder? So weit würde er nicht gehen, das ist viel zu privat", kehre ich zurück zum Ausgangspunkt.
"Nein ..." Tua schüttelt den Kopf. "Er hat von mir und Ruqayyah geschrieben."
"Wer ist Ruqayyah?" Den Namen habe ich noch nie gehört. Mein Freund seufzt.
"Ruqayyah ist ein Groupie und ... bis ich was mit dir angefangen habe, hatte ich auf jeder Tour Sex mit ihr. Auf jeder Tour, also auch auf der ..."
"Du hast deine schwangere Freundin mit einem Groupie betrogen." Tua bestätigt es mir, indem er nickt. "Wow", sage ich. Er schweigt. "Du wolltest diese Beziehung mit Mascha wirklich nicht", stelle ich fest.
"Nein. Ich wollte unser Kind, aber nicht sie; ich habe sie geliebt, aber doch nicht so; und dann hab ich angefangen, mir was vorzulügen und ihr was vorzulügen -"
"Hey", unterbreche ich ihn sanft, lege meine Hand auf seine. "Mach mal einen Punkt zwischendurch, sonst kann ich dir nicht folgen." Tua atmet tief durch.
"Ich weiß nicht, warum ich nicht die Finger von Ruqayyah lassen konnte damals", setzt er erneut an, langsamer diesmal. "Durch diese ganze Baby-Thematik, war ich innerlich krass zerrissen. Ich wollte mich von Mascha trennen, aber nicht unsere Freundschaft aufs Spiel setzen. Sie war mir einfach genauso wichtig wie Jenn heute. Und ich habe mir dauernd das Hirn zermartert, was wohl passiert, wenn sie unser Kind bekommt, mir dann aber verbietet, es zu sehen, nur weil ich mich auf keine feste Beziehung mit ihr einlassen konnte. Ich hab so viel Scheiße gelabert, hab Mascha die gesamte Verantwortung für die Entscheidung zugeschoben, bin in den Bus gestiegen und in der nächsten Stadt hab ich erstmal Ruqayyah gevögelt. Mir war klar, wie mies die Nummer war. Noch währenddessen hab ich ständig Maschas Augen vor mir gesehen, aus denen sie mich traurig angeschaut hat, so wie unmittelbar vor unserer Abfahrt. Ich glaube, sie hat gewusst, dass sie keine Treue von mir erwarten konnte. Als wir bloß Freunde waren, haben wir mal eine Nacht lang darüber diskutiert. Ich hab ihr gesagt, sie soll nie mit einem Rapper zusammenkommen, weil die alle nach den Gigs irgendwelche Groupies vögeln. Sie war der Meinung, dass Menschen sich ändern können; ich habe dagegengehalten, dass es für manche längst zu spät ist. Die wollen sich nicht ändern, hab ich zu ihr gesagt. Du willst dich nicht ändern, hat sie erwidert, und dann haben wir geschwiegen." Tua schließt die Augen. Ich laufe um den runden Tisch rum, lege einen Arm um seine Hüfte und presse mich seitlich gegen ihn. Er zieht mich noch zusätzlich zu sich ran und gibt mir einen Kuss auf den Haaransatz. "Ich habe keinen Kontakt mehr zu Groupies, das weißt du, oder?"
"Ja", bestätige ich mit kratziger Stimme. Seine Geschichte wühlt mich genauso auf wie ihn.
"Gut. Ich kann dich nicht betrügen. Meine Seele würde sterben, wenn ich dir auf die Art wehtun würde."
"Danke, dass du mir davon erzählt hast", sage ich leise.
"Ich will mich nicht mehr schämen müssen", erklärt er und seine Stimme bricht dabei. "Ich glaube, das ist nicht gut für mich."
"Ist es auch nicht." Ich schaue ihm in die Augen. "Ich bin stolz auf dich. Mir das zu beichten war sicher nicht leicht für dich, aber du hast es trotzdem getan und ich bin froh drüber." Tua beugt sich vor und seine Lippen treffen meine. Er schmeckt nach Churros und Schokolade, mit leichter Pfefferminznote. Es ist zunehmend kühl geworden. Als ein eisiger Windstoß durch die Gasse mit den Ständen fegt, drängen wir uns noch dichter aneinander. Ich kann nicht beschreiben, wie gut mir dieser Kuss tut. Nach langer Zeit habe ich endlich wieder das Gefühl, dass Tua mich in seine Nähe lässt und nicht komplett zumacht, sobald es um seine Vergangenheit geht. Ich habe ewig auf diesen Moment gewartet. Als wir uns voneinander lösen, funkeln seine Augen. Die Zärtlichkeit hat den Trübsinn aus seinen Zügen vertrieben. Fragend sehe ich zu ihm auf.
"Ich finde das nicht in Ordnung, dass Bartek deine Geschichte mit Ruqayyah zu einem Text verarbeitet hat", beziehe ich Stellung und Tua atmet sichtlich erleichtert aus.
"Danke. Wenigstens eine, die in dieser Sache auf meiner Seite ist." Er denkt einen Augenblick lang nach und ich lasse ihn, streiche in kreisförmigen Bewegungen über seine Brust. "Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die anderen haben schon recht, was er geschrieben hat, ist zu krass, um es zu verwerfen. Jedes Wort hat Gewicht. Ich hab auch längst die ein oder andere Idee, wie ich das musikalisch umsetzen würde. Aber es geht mir halt auch extrem unter die Haut."
"Verständlich", murmle ich.
"Was denkst du?", fragt er mich und ich nehme mir ein paar Sekunden, lege mir meine Antwort sorgfältig zurecht.
"Vielleicht könnte dieser Song eine Art Abschluss für dich sein. Ich weiß, es wird nicht einfach werden. Aber mal abgesehen von Ruqayyah wird keiner eurer Fans wissen, worum es ursprünglich ging. Es wäre eine vernünftige Möglichkeit, die ganze Geschichte aufzuarbeiten, verstehst du?" Mein Freund nickt und sieht mich nachdenklich an. "Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass du heute wirklich hübsch aussiehst?", fragt er auf einmal und ich lache überrascht auf.
"Hast du nicht, aber das war ein so charmanter Themenwechsel, dass ich ihn dir mal durchgehen lassen werde." Er grinst zufrieden.
"Lass uns zu dir fahren."
"Mika und Pari sind beide zu Hause."
"Ich will auch nur kuscheln." Er schnappt sich unser Geschirr. "Gehen wir?"

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt