Getroffene Entscheidungen zwischen Wald und Meer

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Unser letzter Urlaubstag ist vielleicht einer der allerschönsten, die wir erleben, zumindest wettertechnisch. Sonnenstrahlen purzeln durch das Fenster, überschlagen sich auf dem Teppich und fallen schließlich auf das Gesicht meines schlafenden Freunds, der müde eine Hand über seine Augen legt, um die Dunkelheit wieder heraufzubeschwören, die ich ihm genommen habe. Schmunzelnd stehe ich mit dem Faden in der Hand, an dem man die Jalousie hochzieht, an die Wand gelehnt. Tua gibt ein undeutliches Brummen von sich und tastet über die leere Seite des Bettes.
"Gib dir keine Mühe, da liege ich nicht mehr", informiere ich ihn hilfsbereit. Er blinzelt kurz, schließt die Augen aber gleich wieder. "Was stehst du da rum? Komm wieder zurück ins Bett."
Ich folge seiner Anweisung nicht direkt, nähere mich aber der Bettkante; und darin liegt letztendlich mein Fehler. Weil ich unvorsichtig bin, greift Tua nach meiner Hand und zieht mich blitzschnell auf die Matratze. Mir entwischt ein aufgeregtes Kichern, währendessen beugt er sich über mich. "Du bist ja sogar angezogen, wie lange bist du schon wach?", fragt er.
"Eine ganze Weile, ich war spazieren. Es ist unser letzter Tag hier", versuche ich ihn aus den Federn zu locken.
"Eben. Gönn mir ein bisschen Ruhe, bevor ich dich daheim wieder an deinen Job verliere."
Ich sehe in seine Augen und streichle gleichzeitig mit dem Daumen über seine Wange. "Du verlierst mich nicht, ich kündige."
"Im Ernst?" Er grinst breit, fast kindlich. Seine Augen leuchten, als wäre Heiligabend und er hätte hinter Schleifen und Geschenkpapier genau das gefunden, was er sich gewünscht hat.
"Ja, im Ernst", bestätige ich. Heute Morgen auf dem Spaziergang habe ich gründlich darüber nachgedacht und diesen mehr als überfälligen Entschluss gefasst.
"Und das Geld?", hakt er besorgt nach. "Falls du nicht über die Runden kommst, helfe ich dir aus."
"Das musst du nicht, Mama und Thoralf haben mir schon ihre Unterstützung angeboten. Ich werde also darauf zurückkommen, sobald wir wieder in Berlin sind. Aber ganz abgesehen davon, gibt es ein Sparbuch nur für mich, das über Bastian läuft. Er und die anderen KKK-Jungs haben darauf einen beachtlichen Betrag eingezahlt, der meine Zukunft absichern sollte. Als ich dir gesagt habe, dass sie meine zweite Familie sind, war das nicht übertrieben. Es war ihr gemeinsames Geschenk an mich zu meinem Achtzehnten. Falls ich in einen richtig miesen Engpass gerate, ist es mein gutes Recht, das Geld anzuzapfen."
Tua ist sichtlich erstaunt. "Wieso hast du nicht schon früher von diesem ominösen Sparbuch gelebt?"
"Weil das alles ist, was meine Kinder mal von mir erben könnten", öffne ich mich ihm. "Ich möchte dieses Geld nicht antasten."
"Aber deine Mutter weiß davon?"
"Ja, die Jungs haben es vorher mit ihr abgesprochen."
"Und sie hat dir nie dazu geraten, deine Geldreserven anzubrechen?", hakt er skeptisch nach.
"Sie respektiert meine Entscheidung. Ich will das Geld, das ich ausgebe, eigenständig verdienen und selbst, wenn ich erstmal einen Kredit bei ihr aufnehmen muss, wird sie jeden Cent davon wiedersehen. Das weiß sie."
Tua dreht sich auf den Rücken und starrt die Decke an. "Sollte mich eigentlich nicht mehr überraschen, dass wir uns so ähnlich sind", murmelt er.
"Tut's aber", stelle ich fest und nehme seine Hand, verschränke meine Finger mit seinen. "Schlimm?", will ich wissen. "Ich für meinen Teil mag's ja. Überraschungen knistern so schön." Ich drücke seine Hand und schenke ihm ein Lächeln.
Er erwidert es. "Nein. Hauptsache, du lässt dich nicht von deinem Stolz überschwemmen."
"Bin ja zum Glück nicht so dumm wie du."
"Deswegen bist du auch schlechter im Bett als ich, herzlichen Glückwunsch", kontert er trocken.
"Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen, hm?", necke ich ihn weiter.
"Haha, Kommunistenwitze. Du bist ja richtig originell."
"Sagt der, der die schlechtesten Wortwitze spazieren führt."
"Reicht dir doch, du lachst immer."
"Ja, aus Mitleid." Tua drückt mir sein Kissen ins Gesicht und ich lache erstickt in den Stoff. Als ich den Kampf gewinne und es wegreißen kann, küsst er mich. Auf einmal will ich nicht mehr weg von hier. Mir egal, dass ich in Berlin ein Leben habe, das ich bestreiten muss und das mir ein Umzug unmittelbar bevorsteht. Gerade in diesem Moment will ich für immer hierbleiben. Mit ihm. Ich muss an seine Worte vom Strand denken. Dass wir irgendwann ans Meer ziehen. Wenn wir alt und grau sind, wie das Meer selbst an einem verregneten Tag. Manchmal werde ich ungeduldig. Dann wünsche ich mir, es wäre schon so weit. Aber ich weiß, dass ich noch ein paar Jahre vor mir habe. Ein paar wunderschöne Jahre, die mich wieder hierher zurückbringen werden. Ans Meer. Eines Tages.
"Lass uns öfter Urlaub machen", flüstere ich lächelnd, mit geschlossenen Augen. "Einverstanden." Tua küsst meine Mundwinkel und mein Lächeln verwandelt sich in ein breites Grinsen.
Er hält mich zurück als ich ihn küssen will. "Ich bin übrigens stolz auf dich, dass du eine Entscheidung getroffen hast und kündigen wirst."
"Wozu lebe ich denn, wenn ich nicht wenigstens versuche, glücklich zu werden?", frage ich ihn rhetorisch.

Den Mittag über spazieren wir durch den Wald in Richtung Strand. Der Wind rauscht durch die Blätter, er ist frisch, aber kalt ist mir ausnahmsweise mal nicht. Ich bin dick eingepackt. Ein roter Merch-Pulli aus der letzten weihnachtlichen KKK-Kollektion, die Strumphosen unter der schwarzen Jeans und meine ebenfalls schwarzen Boots spenden mir samt dem weißen, kuschligen Wintermantel gut Wärme.
"Hast du Lust auf ein Lagerfeuer heute Nacht?", fragt Tua und ich schaue zu ihm auf. "Brandstiftung befördert dich nur ins Kittchen, lass es lieber."
Er verdreht die Augen. "Bei den Bungalows gibt es eine Feuerstelle. Wir könnten den Urlaub dort ausklingen lassen, bevor wir morgen zurückfahren."
"Das wäre schön", stimme ich zu.
"Okay, dann erinnere mich dran, dass wir auf dem Heimweg später Feuerholz auftreiben müssen."
"Gibt's denn hier sowas zu kaufen?"
"Ey, nur weil das nicht Berlin ist, heißt das nicht, dass man hier kein Feuerholz kaufen kann", lacht er. "Stadtkind", fügt er noch hinzu und schubst mich leicht.
"Ich wüsste nicht mal, wo ich in Berlin Feuerholz besorgen sollte, du Landei", schmolle ich beleidigt.
"Hast du überhaupt schon mal an 'nem Lagerfeuer gesessen, Grünschnabel?"
"Wann hast du das letzte Mal an 'nem Lagerfeuer gesessen, alter Mann? Das ist doch bestimmt Äonen her."
"Das letzte Mal war hier. Mit Bea und Phillip. Bea ist Phillips Schwester."
"Also deine Cousine."
"Genau."
"Die Blondine, die du auf der Beerdigung deines Großvaters getröstet hast?"
Kurz steht ihm der Schmerz des Verlusts ins Gesicht geschrieben. "Dass du dich daran noch erinnerst ..."
Das werde ich nie vergessen. Eins der schlimmsten Wochenenden, die ich je durchmachen musste. "Wir sind weitgekommen seitdem", sage ich, nach einer Pause.
Er äußert sich nicht dazu und kehrt stattdessen zu fröhlicheren Erinnerungen zurück. "Die Ferien mit Bea und Phillip waren die besten. Meine Eltern haben kaum gestritten, weil meine Tante und mein Onkel nebenan gewohnt haben. Sonst war der Urlaub immer ihre Gelegenheit, mal Dampf abzulassen, wie sie sich das zu Hause vor mir immer verkniffen haben. Aber sie sind gut darin, sich schnell zu vertragen. Mein Vater sagt immer, das Leben ist zu kurz für diesen Blödsinn und irgendwie hat er Recht."
Ich nicke bloß.
"Wir sind da hinten die Bäume raufgeklettert", fährt er fort. "In dem Sommer war alles so unbeschwert. Jeden Tag draußen, jeden Tag am Meer. Jeden Tag Bea beim Tischtennis abziehen." Er lächelt und sieht auf seine Füße. Unsere Schritte sind leise. Es muss an der Beschaffenheit des Waldbodens liegen. "Kennst du dieses Gefühl von Sandkörnern, die du mit ins Bett geschleppt hast, nach einem langen Tag am Strand?", fragt er.
"Ja", lächle ich.
"Du magst das auch, oder?", kombiniert er richtig.
"Ja. Ich kann zwar verstehen, wenn andere das nicht mögen ... Aber ich liebe es. Nach ein paar Tagen riecht dein ganzes Bett nach Sonnencreme und After Sun Lotion, und diese Sandkörner wirken wie Akupunktur."
"Ziemlich genau so ist es", lobt er die Beschreibung und ich nehme seine Hand, verschränke meine Finger mit seinen. "Du verbindest viel Gutes mit diesem Ort, oder?", hake ich nach.
"Mehr auf jeden Fall als mit Berlin. Die Insel liegt so abgeschieden. Im Winter fällt es auf. Wer will hier schon um die Jahreszeit sein, außer wir zwei Verrückte? Ich wünschte, Depressionen würden dir diese Art von Einsamkeit vermitteln. Die heilsame; wo du endlich mal die Möglichkeit bekommst, am Stück zu denken, weil alles ruhig ist. Ich meine, sieh dich um. Was ist hier schon? Nichts. Bäume, wo du hinschaust und an der Grenze des Waldes tut sich der Strand auf. Du musst dich nur von den Campingplätzen fernhalten, aber solang du das tust, kannst du drei Stunden spazierengehen und begegnest keiner Menschenseele. In der Stadt kommen dir andauernd Leute entgegen und die meisten rennen von A nach B und erinnern dich daran, dass du gerade auch irgendwo hin solltest. Weißt du, Iara, manchmal fällt es mir verdammt schwer, einfach nur zu leben. Die Realität pfuscht mir in meine Fantasiewelt, in der ich der größte Musiker aller Zeiten bin, in der niemand hungern, niemand leiden muss und in der jeder geliebt wird. In meinem Kopf gibt es keine Arschlöcher. So zu denken ist natürlich krank, aber manchmal frisst es mich dann doch mit Haut und Haar auf. Deswegen bin ich dankbar. Wenn es einen Gott gibt, hat er mir dich geschickt. Irgendwie rettest du mich jeden Tag und ich glaube nicht, dass ich das je ausgleichen könnte. Ich stehe tief in deiner Schuld."
Ich stoppe ihn und sehe ihm fest in die Augen. "Ich rette dich nicht, Tua, das machst du selbst. Wieso solltest du in meiner Schuld stehen?" Ich hebe seine Hände an, halte sie vor seine Brust und trete einen Schritt auf ihn zu. "Du bist immer noch der kleine Junge, der diesen Ort damals verlassen hat. Dieser Teil von dir wohnt immer noch in deinem Herzen. Nicht alles ändert sich. Manchmal vergessen wir nur eine Zeit lang, wer wir eigentlich sind."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt