An einem Mittwoch, als ich aus der Konzertagentur rausmarschiere, schwebt vor meinem geistigen Auge nur die heiße Badewanne, in die ich zu Hause sanft hineingleiten werde. Doch dieser Tag ist anders als die anderen. Das wird mir schlagartig bewusst als eine junge Frau mit lockigen blonden Haaren plötzlich vor mir steht. Sie ist hübsch und sieht dabei irgendwie sehr ... deutsch aus. Ich blinzle abwartend, denn sie hat sich mir mitten in den Weg gestellt. Und das scheint wohl seinen Grund zu haben.
"Du bist Iara, oder?" Überrascht ziehe ich eine Augenbraue hoch.
"Wer will das wissen?", gebe ich neutral zurück und lasse die Hand sinken, mit der ich Paris Autoschlüssel umklammere. Zur Abwechslung habe ich meiner besten Freundin den Wagen geklaut, nicht Tua.
Die Frau vor mir streicht sich durchs Haar. In ihren blauen Augen spiegelt sich auf einmal Unsicherheit. Nur Lille hat sich mir mitten auf der Straße vorgestellt, und die Assoziation mit ihm ruft sofort die schlechte Erinnerung daran, wie das damals ausgegangen ist, in mir wach. Ihm hab ich viel zu schnell vertraut. Hier und heute werde ich skeptischer sein, ermahne ich mich. Auch wenn es nicht so wirkt, als würde von der Dame Gefahr ausgehen. Sie ist nur ein Mädchen, vielleicht ein paar Jahre älter als ich.
"Ich heiße Julia." Ihr Name trägt noch mehr zu dem deutschen Eindruck bei, den sie auf mich macht. Ich räuspere mich.
"Hi", sage ich reserviert. Kann sie nicht einfach mit der Sprache rausrücken? Doch in dem Augenblick, in dem ich es mir wünsche, geschieht es.
"Du bist mit Tua zusammen, oder?" Mir gefriert das Blut in den Adern. Ist sie ein Fan? Oder schlimmer noch: Was mach ich, wenn sie eine seiner früheren Eroberungen ist? Für abwegig halte ich das jetzt nicht, er ist eben kein unbeschriebenes Blatt. Eher im Gegenteil.
"Hör mal, Julia", meine ich und hoffe, dass ich ruhiger klinge als ich es innerlich bin. "Ich kenn dich nicht", stelle ich subtil klar und bringe ihr wohl rüber, dass ich nicht wirklich Interesse hege, daran etwas zu ändern. Sie senkt die Lider. Ihr ist die Situation anscheinend peinlich. Komisch, immerhin hat sie dieses Gespräch initiiert.
"Tut mir leid", entschuldigt sie sich. "Ich hatte mir eigentlich überlegt, was ich zu dir sagen würde, damit es nicht so creepy rüberkommt, wenn ich dich anspreche. Für den Anfang solltest du wohl wissen: Ich bin Hannes' Ex-Freundin."
Erstaunt lege ich die Stirn in Falten. Tua hat mir gegenüber mal erwähnt, dass Hannes' Ex für ihn ein absolutes Tabuthema wäre.
"Aha", mache ich ratlos.
"Ich würde wahnsinnig gern mit dir über ihn sprechen."
"Ich kenne Hannes kaum", wehre ich ab und will mich an ihr vorbeischieben. Das ist doch verrückt. Warum rede ich überhaupt noch mit ihr?
"Das weiß ich. Ihr habt euch nicht so oft getroffen." Sie versperrt mir erneut den Weg. "Aber ich glaube, Hannes braucht dringend Hilfe. Und ich müsste auch mal mit deinem Freund sprechen."
"Warum redest du dann nicht direkt mit ihm und laberst erst mich so von der Seite an?", belle ich unhöflich. Ich beiße mir auf die Zunge. Scheiße, hab ich gerade einer fremden Frau verraten, dass sie richtig lag und ich tatsächlich mit Tua zusammen bin? Höchste Zeit zu verschwinden. Ich will Paris Twingo ansteuern, doch sie legt mir eine Hand auf den Arm, hält mich nicht fest, aber als ich zu ihr herumfahre, erkenne ich Tränen in ihren Augen.
"Bitte", fleht sie. "Es ist wichtig, okay? Hannes ist uns wichtig." Ihre Stimme bricht, als sie seinen Namen in den Mund nimmt.
"Uns?", wiederhole ich.
Sie deutet auf ein Auto auf dem gegenüberliegenden Parkstreifen. Daran lehnt ein Mann mit blauen Augen, kühlbraunen Haaren und einer markanten Nase, der uns beobachtet.
"Das ist Titus. Hannes' älterer Bruder."
"Hannes hat Familie?", frage ich ungläubig. Julia nickt.
"Ich kann dir eine Menge über Hannes erzählen. Alles im Grunde. Wenn du willst." Neugier schleicht sich bei mir ein.
"Woher weiß ich, dass du ihn wirklich kennst?", frage ich sie in herausforderndem Ton.
Julia holt ein ausgedrucktes Foto aus der Tasche ihres Mantels. Die Ecken sind abgeknickt, aber in der Mitte erkenne ich deutlich Hannes, der seinen Arm um Julia gelegt hat und ... glücklich wirkt? Sie sind anscheinend irgendwo auf einer Party, er hält eine Flasche Sinalco in der Hand. Keinen Alkohol. Was zum Fick?, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe Hannes noch nie so fröhlich Lächeln sehen wie auf diesem Foto. Es ist unverkennbar derselbe Mann, aber das passt von der Art her doch überhaupt nicht zusammen.
"Ich ...", stottere ich verwirrt. "Ich muss kurz telefonieren. Warte." Ich fummle mit zittrigen Fingern mein Handy aus der Hosentasche und stelle mich etwas abseits. Zum Glück nimmt Tua ab.
"Hi, sorry, ich esse gerade. Was gibt's?", nuschelt er und ich höre Papier rascheln.
"Hey. Weißt du, wie Hannes' Ex heißt?", komme ich direkt zum Punkt.
"Was?"
"Ob du -"
"Nein, ich hab dich schon verstanden", unterbricht er mich. "Ich frag nur, weil ... Er hat mal gesagt, dass sie Lia heißt, glaub ich. Warum?"
"Ich wurde eben von einer Ju-Lia angesprochen. Sie kannte meinen Namen, hat nach dir gefragt und gemeint, dass sie mit uns über Hannes sprechen will." Stille.
"Im Ernst?"
"Tua, ich hab Angst", flüstere ich. "Sie hat einen Typen dabei und behauptet, der wäre Hannes' Bruder. Sie selbst sieht harmlos aus. Er steht auch weiter weg. Ich hab trotzdem Angst."
"Wo bist du?"
"Vor der Agentur. Sie hat mich genau davor abgepasst. Sie kannte meinen Namen, sie kannte dich, sie wusste, dass wir zusammen sind -" Meine Stimme beginnt sich zu überschlagen.
"Ich bin in zehn Minuten da. Keine Panik, halt die Füße still." Ich höre, wie die Tür hinter ihm zuknallt und das Geräusch seiner Schritte im Treppenhaus. Er hat nicht mal abgeschlossen.
"Danke", sage ich.
"Bedank dich nicht bei mir, weil ich auf dich aufpasse. Bis gleich."Julia und ich unterhalten uns eine Weile verhalten über das Wetter, bis Tuas Wagen neben uns hält.
"Du bist Julia?", fragt er sie, ohne Begrüßung. Doch sie starrt ihn bloß mit offenem Mund an. Im Augenwinkel nehme ich wahr, wie Titus sich langsam auf uns zu bewegt. In mir brodelt die Angst. Was passiert denn jetzt? Tua hat ihn ebenfalls bemerkt. Er steigt aus und greift nach meiner Hand. Ich platziere mich schräg hinter ihm. "Hey, schön Abstand wahren, ja?", ermahnt Tua ihn und Hannes' angeblicher Bruder bleibt sofort stehen.
"Scheiße", höre ich ihn sagen.
"Oh mein Gott", flüstert auch Julia nun.
"Ihr seid also Hannes' Ex und sein Bruder?", fragt Tua. Titus nickt. Julia gesellt sich zu ihm.
"Das ist krass", fiept sie und mustert sein Profil dabei. Wieder nickt Titus und starrt meinen Freund an.
"Du siehst genau aus wie er", sagt er zu Tua. "Aus der Nähe noch mehr."
"Wie wer?", erwidert mein Freund kalt.
"Wie Elias", antwortet Titus.
"Wer ist Elias?", frage ich mit dünnem Stimmchen. In Julias Augen sammeln sich sofort wieder die Tränen. Titus zieht sie zu sich ran.
"Sch", macht er besänftigend. Er sieht mich an. "Habt ihr Zeit für eine Tasse Kaffee?"
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Messias
AcakIara war schon mit vierzehn in der Rap-Szene unterwegs, hier mit der einen Band am Start, dort mit der anderen. Irgendwie kommt man nicht mehr raus aus diesem doch sehr speziellen Freundeskreis. Aber warum sollte man das auch wollen? Staffel 4 meine...