Vor der Zukunft ist in der Gegenwart

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"Du, Iara ..." Maurice legt einen Arm um mich.
"Ja?"
"Tarik meinte, du brichst deine Ausbildung bei Universal wahrscheinlich ab." Er ist sichtlich bedrückt über die Info, die er da zu Ohren bekommen hat.
"Kann schon sein." Ich fahre mir durch die Haare. "Es ist ja nicht wegen euch."
"Was ist dein Plan danach?"
Tja, da trifft er meinen wunden Punkt. "Ich habe keinen", schlucke ich hart.
Wir schweigen betreten, versuchen das Panorama zu genießen, Berlin liegt uns zu Füßen, doch das fällt weder Maurice noch mir in diesem Augenblick besonders leicht. Einige Sekunden verstreichen in peinlicher Stille. Erst sein unterdrücktes Grinsen bringt mich nach dieser Tortur des Schweigens zum Lächeln.
"Was ist?", frage ich.
"Nichts. Das ist nur so komisch. Als ich dich getroffen habe, habe ich mich in dir wiedererkannt. Du warst reif, intelligent, hattest aber trotzdem diesen kindlichen Charme, den du uns irgendwann später geopfert hast, damit wir auf einer Wellenlänge waren." Er hustet, dann fährt er fort. "Aristoteles hat an Freunden drei Merkmale feststellen können: Sie verlassen sich aufeinander, sie verbringen gerne Zeit miteinander und sie wachsen aneinander. In jeder Freundschaft, die du aufgebaut hast, konnte ich das beobachten." Er lächelt. "Ich bin wirklich froh, dass ich dich kennengelernt habe."
Weil es sich wie das Richtige anfühlt, umarme ich ihn wortlos. "Ich bin auch froh, dass ich euch kennenlernen durfte", flüstere ich. "Ihr seid der Grund dafür, dass ich die Ausbildung bei Universal noch nicht abgebrochen habe."
Tatsächlich meine ich es, wie ich es sage. Seit Betty, eine ehemalige Freundin und Klassenkameradin von mir, mit der ich mich inzwischen gar nicht mehr verstehe, ihre Ausbildung an meiner Seite antrat, muss ich ihre tägliche Tyrannei aushalten. Eigentlich bin ich was Quälgeister angeht resistent, dennoch hat Betty meine Geduld wirklich überstrapaziert. Meine Bemühungen, ihr eine gute Freundin zu sein, ließen sie kalt. Und eines Tages ging unser zwischenmenschliches Verhältnis vollständig den Bach runter; teils aufgrund meiner eigenen Dummheit. In blindem Vertrauen nahm ich sie mit zu Niko von FIA, der zweiten Band, die mich neben dem Kokainklan seit Ewigkeiten auf meinem Lebensweg begleitet. Betty, die nur darauf gewartet hatte, schmiss sich an meinen Kumpel ran, mit dem Effekt, dass Niko mega sauer auf mich war und ich mich in Grund und Boden geschämt habe, weil er natürlich umziehen musste, nachdem sie nun wusste, wo er wohnte. Bis dato hatte ich keine Ahnung von Bettys Obsession mit Rappern. Mich würde mal interessieren, ob ich als eigenständige Person überhaupt je eine Rolle für sie gespielt habe oder ob sie in erster Linie wegen meiner berühmten Freunde Zeit mit mir verbracht hat. Immerhin nahm sie den Kontakt zu mir auf, als ich gerade anfing, nach der Schule mit KKK und FIA abzuhängen. War das Zufall oder Kalkül? Vielleicht bin ich endlich soweit, dass ich sie zur Rede stellen kann. Ursprünglich haben wir nach der Katastrophe bei Niko zu Hause kein Wort mehr miteinander gesprochen, weil mich ihre Aktion so unheimlich verletzt hat. Sie hat im Anschluss daran sogar unsere Klasse gegen mich aufgehetzt.
Bis Niko sich wieder beruhigt hatte, war ich gezwungen eine depressive Phase durchzustehen, die erst von der überboten wurde, die auf meine letzte Trennung von Tua folgte. Aber eine gute Sache konnte ich wenigstens aus dem ganzen Drama mitnehmen: Tarik, ebenfalls ein FIA-Mitglied, und ich bauten ein engeres Verhältnis zueinander auf. Er wurde zu einem Ersatz für Stean, der in Braunschweig lebt und den ich deshalb nur selten zu Gesicht bekomme.
Unter den Menschen, die man lieb hat, gibt es doch immer welche, die man irgendwie lieber hat. Bei mir sind das eben Tarik und Stean. Letzterer ist mein Seelenverwandter. Wir haben eine so starke Verbindung, dass wir sogar physisch spüren, wenn es dem anderen schlecht geht. Das würde man bei unseren Startschwierigkeiten kaum annehmen.
Zwischen Tarik und mir ist es einfach die große platonische Liebe. Sein größter Pluspunkt ist unter anderem die Tatsache, dass er in Berlin wohnt.
"Gibt's keinen anderen Grund?", wundert sich Maurice, dessen Stimme mich in die Gegenwart zurückkatapultiert.
"Nein, da ist nix, ich würde jederzeit abbrechen", antworte ich, bin mir allerdings nicht sicher, ob das die Wahrheit ist. "Meine Schulden bei Bastian sind abbezahlt und ich würde garantiert etwas finden, womit ich mich über Wasser halten kann."
"Ganz schön optimistisch." Maurice sieht skeptisch aus. Anscheinend habe ich nicht authentisch auf ihn gewirkt. Ich kann es ihm nicht verübeln, denn mir fehlen tatsächlich die Worte, um ehrlich rüberzubringen, was ich fühle. Etwas in mir sträubt sich wohl dagegen und lügt lieber. Später kannst du herausfinden, was der wahre Grund ist - Prompt fange ich mich also. Die paar Stunden mit Maurice sind zu kostbar, um auch nur einen einzigen Gedanken an meinen inneren Struggle zu verschwenden. Neckisch zwicke ich die trockene Haut seiner Hand, die über meine Schulter baumelt. Er hat seine Handschuhe vergessen und für Handcreme ist er sich lächerlicherweise zu männlich
"In irgendeiner Hinsicht muss ich mich doch von euch unterscheiden", spotte ich. "Keiner von euch ist ein Optimist."
"Wir haben alle schlechte Erfahrungen mit mieser Verblendung gemacht", erwidert er ernst. "Pseudo-Freunde, Ex-Freundinnen -"
"Ja, ich weiß." Ich kuschele mich an ihn und denke über meine Leute nach. Wo wäre ich bloß, wenn ich sie nie getroffen hätte?

Am Abend, als ich gemütlich in Jogginghose und Tanktop auf dem Bett liege, geht es erneut um meine Zukunft. Diesmal quetscht mich allerdings nicht Maurice sondern meine Mutter aus, mit der ich telefoniere.
"Süße, wenn du finanzielle Unterstützung brauchst, sind Thoralf und ich gerne für dich da", meint sie.
Thoralf scheffelt Kohle, dabei habe ich keine Ahnung, als was mein Stiefvater genau arbeitet.
"Mama, meine Probleme sind nicht finanzieller Natur", seufze ich.
"Ist alles in Ordnung zwischen dir und Tua?"
"Tua? So hast du ihn ja noch nie genannt", lache ich. "Ja, na klar. Er ist im Studio und arbeitet am neuen Kool Savas Album."
"Kool Savas? Wer ist das? Ach, weißt du was? Erzähl es mir nicht. Ich will wissen, was bei meiner Tochter los ist, nicht bei Kool Savas. Wo liegen denn deine Probleme, wenn Johannes unschuldig daran ist?"
Wenigstens hat sie den Spitznamen meines Freundes wieder gegen seinen echten ausgetauscht. Es ist sonst so ungewohnt, sie diese drei Buchstaben (T-U-A) hintereinander artikulieren zu hören.
Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe, bevor ich erkläre: "Ich bin einfach hin- und hergerissen. Mir macht die Arbeit bei Universal eigentlich Spaß. Die Dinge, die ich für die Künstler erledige, geben mir das Gefühl, meinen Beitrag zu leisten, nützlich zu sein, gebraucht zu werden; such dir was aus. Andererseits ist da der Stress, der mich nach und nach niedermetzelt." Dass Tua glaubt, ich könnte eine Essstörung entwickeln, lasse ich aus. Mit manchen Dingen sollte man die eigene Mutter nicht unnötig beunruhigen. "Vermutlich bin ich doch nicht belastbar genug für diesen Job." Allein das auszusprechen macht mich traurig.
"Du bist belastbar. Nur das, was die bei Universal veranstalten ist Unsinn, mein Engel. Kein Mensch schafft das, ohne daran kaputt zu gehen. Du kommst teilweise erst um 22 Uhr nach Hause, deine Freizeit beschränkt sich auf die Nacht, in der du schläfst. Das darf auf keinen Fall ein dauerhafter Zustand werden, Iara."
"Moment mal", hake ich ein. "Heißt das du willst, dass ich bei Universal kündige?"
"Das habe ich nie gesagt. Mir ist wichtig, dass du glücklich bist. Und das bist du nicht."
"Das hat Pari auch schon gesagt", murmle ich.
"Pari ist ganz schön klug. Du solltest auf den Ratschlag deiner besten Freundin vertrauen."
"Und auf deinen, oder?"
"Du hast vor Ewigkeiten aufgehört, meine Ratschläge anzunehmen."
"Mama, das ist doch Quatsch", lache ich.
"Nein, ist es nicht." Zwar kann ich sie nicht sehen, aber ich bin sicher sie lächelt, während sie am Apparat sitzt. "Ich bin mächtig stolz auf dich", proklamiert sie.
Sie schmeichelt mir und mir wird den Rest des Abends ein Grinsen ins Gesicht gebrannt bleiben. "Wie läuft es bei dir?", frage ich.
"Thoralf ist ein wundervoller Ehemann, wir wohnen inzwischen in unserer schicken Wohnung, mein Gehalt wird demnächst erhöht, kurzum: Ich bin zufriedener als je zuvor in meinem Leben."
"Das freut mich wahnsinnig für dich", sage ich.
"Danke, Engelchen."
Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile. Unterbrochen werden wir erst, als Bastian an meine Tür klopft. "Was gibt's?", frage ich ihn.
"Hat geklingelt, dein Macker ist da." Offenbar hat mein Mitbewohner gerade geduscht, denn er läuft in Boxershorts und Hoodie rum. Entweder ist es das oder er hat gepennt und das Klingeln hat ihn geweckt. "Ich bin gleich da, warte kurz. Mama? Ich muss auflegen, aber bitte grüß Thoralf und macht euch einen schönen Abend."
"Grüße zurück", adressiert mich eine unverkennbar maskuline Stimme aus dem Lautsprecher. Meine Mutter lacht: "Auf Wiedersehen, Iara."
"Ciao." Ich schicke noch einen Kuss durch die Leitung, dann wende ich mich an Bastian. "Sag mal hast du gestern so lange bei Beatzarre im Studio gesessen? Als du ins Bett gegangen bist, habe ich mir Porridge zum Frühstück gekocht."
"Nee, ich war danach noch in 'ner Bar mit ein paar Menschen von der Jubiläumsparty." Ein Gähnen seinerseits stützt meine These, dass er erst vor drei Minuten aus dem Bett gerollt ist. Doch mir bleibt keine Zeit, um das Gespräch mit ihm fortzusetzen, denn plötzlich taucht mein Freund auf und strahlt wie ein Kernreaktor.
"Du siehst crazy aus, hör auf mich wie ein Wahnsinniger anzuglotzen", verdecke ich meine Augen. Bastian und Tua geben sich einen Handschlag, bevor Letzterer zu mir ins Zimmer kommt. "Ich muss dir was zeigen." Er drückt mir einen Kuss auf den Haaransatz, also sehe ich ihm dabei zu, wie er seinen Laptop hochfährt. "Ist es Musik?", frage ich mit funkelnden Augen.
"Ich denke, du wirst es besser als Musik finden."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt