Liebe ... Eigentlich einfach Liebe

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Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage, liege ich nicht mehr im Bett, wie ich verwundert feststelle. Ich taste über die babyblaue Fleecedecke, in die ich eingewickelt bin und die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, als eine Hand auf meiner Hüfte landet. "Ist dir kalt?", fragt Tua mich. Mein Kopf ist auf seinen Schoß gebettet, die Hand an meiner Hüfte gehört ihm. Verwirrt blinzelnd blicke ich zu ihm auf.
"Was machen wir auf der Veranda?", frage ich, setze mich dabei auf und ziehe mir die Decke hoch über die Brust. Ich trage nur sein T-Shirt und einen Slip. Tuas Frage war also durchaus berechtigt. "Klar, friere ich", murmle ich also und kuschle mich an ihn. Er hat die Bettdecke mit nach draußen genommen, aber wahrscheinlich bin ich im Schlaf immer wieder von ihm abgerückt, sodass er mir die Fleecedecke von der Couch als provisorische Lösung mitgebracht hat.
"Ich hatte mir einen Joint gedreht und meine Mutter erträgt den Geruch von Gras nicht. Gott sei Dank trägst du dein Parfüm sparsam auf." Seine Antwort kommt mir beinah irreal vor. Die ganze Situation ist irgendwie irreal.
"Du hast mich nach draußen getragen um zu kiffen und ich habe die ganze Zeit weitergeschlafen?", schildere ich, was dementsprechend abgelaufen sein muss.
"Tief und fest", bestätigt Tua und der Rauch verlässt seinen Mund, kräuselt sich in der Luft ... Ich wende meinen Blick von dem seltsam hypnotischen Schauspiel ab und drehe stattdessen das kleine Medaillon an meiner goldenen Kette zwischen den Fingern. Das letzte Weihnachtsgeschenk meines Vaters an Carrie und mich, kurz bevor er unsere Familie verlassen hat. Ich muss gestern vergessen haben sie abzunehmen, ohne dass es mir aufgefallen ist.
"Woran denkst du?" Tua legt mir einen Arm um die Schultern und ich hauche ihm einen Kuss auf die Wange. "Egal, wie es gesundheitlich um ihn steht ...", beginne ich zögerlich. "Ich beneide dich um deinen Vater." Tua drückt mich und ich wische mir über die Augenpartie. "Er hat dich nie verlassen."
"Ja, und ich hätte das zu schätzen wissen sollen, aber das ist mir auch erst klargeworden, nachdem du mir davon erzählt hast, wie dein Vater abgehauen ist und vom einen auf den anderen Tag nichts mehr mit dir und deiner Schwester zu tun haben wollte. Ich habe meinen Vater aus meinem Leben ausgesperrt, vor allem als Teenager. Und das hättest du vielleicht eines Tages genauso gemacht, aber du hattest nicht einmal die Gelegenheit dazu", sinniert er und ich nicke.
"Hey", schniefe ich, "lass uns reingehen, ja? Ich möchte deiner Mutter helfen, das Frühstück vorzubereiten."

Gesagt, getan. Ivanka steht in der Küche und füllt gerade Kaffee in die Filtermaschine. Sie trägt einen roten Morgenmantel und ihre langen Haare fallen seidig weich und glänzend über ihre Schultern. "Guten Morgen", begrüßt sie mich und lächelt zögerlich. Ihr freundlicher Gesichtsausdruck verwandelt sich jedoch gleich darauf in eine eher besorgte Miene, als Tua hinter mir im Türrahmen auftaucht. "Was machst du nur mit deiner Freundin? Schleppst sie mitten in der Nacht raus in die Eiseskälte, Johannes", mahnt sie ihn an.
"Oh, das war schon okay", winke ich ab und stelle mich verteidigend vor Tua. Mit einer Hand greife ich nach seiner, mit der anderen halte ich die Decke fest, die ich mir um die Hüften geschlungen habe, damit ich nicht halb entblößt vor ihr stehe.
"Ich hab sie eben gern um mich", nuschelt Tua und ich drücke seine Hand nochmal bestärkend.
Ivanka schüttelt seufzend den Kopf. "Geh dir was anziehen", bittet sie ihn. "Iara, du kannst dich gern an den Tisch setzen und mir Gesellschaft leisten, während ich uns etwas zum Frühstück mache. Ich dachte an Eier -"
"Ich habe eine bessere Idee", falle ich ihr ins Wort. "Ich ziehe mir auch rasch was an und komme dann runter, um dir zur Hand zu gehen."
"Nisenitnytsya!"
Ich unterdrücke den Impuls, ihr mit "Gesundheit!" zu antworten.
"Das kann Johannes machen", fährt Ivanka fort. "Bitte entspann dich, Kind."
"Trotzdem möchte ich mir etwas anziehen, wenn das in Ordnung ist", beharre ich. Die Kaffeemaschine gibt ein grausiges Piepen von sich, weil der Kaffee durchgelaufen ist. Ivanka ist abgelenkt und Tua, den in diesem Moment genau derselbe Gedanke ereilt, zieht mich am Handgelenk sanft raus aus der Küche und in Richtung Treppe.
Bevor ich in seinem alten Kinderzimmer nach meinem weißen Strickpullover und einer Leggings greifen kann, stoppt mein Freund mich. "Danke", sagt er und sieht mir dabei in die Augen.
"Wofür?", frage ich perplex.
"Dafür, dass du in meiner Nähe bleibst, wie du es versprochen hast."
Ich lächle. "Ich genieße das, das solltest du doch inzwischen begriffen haben", zwinkere ich ihm zu und schlüpfe in ein frisches Paar Socken.
"Ich genieße das auch", meint Tua leise, aber ehrlich. Er sieht mir nach wie vor in die Augen. Ich nehme sein Gesicht kurz in meine Hände, stelle mich auf Zehenspitzen und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen.
"Gehen wir wieder runter?" Fragend hebe ich die Augenbrauen.
Tua nickt, schnappt sich eine Sweatjacke und steckt beim Rausgehen noch seine Zigaretten ein.
"Du rauchst zu viel", mache ich ihm klar.
"Wir können darüber reden, sobald das hier vorbei ist", erwidert er. Am unteren Treppenabsatz halte ich ihn auf, indem ich ihm eine Hand auf die Brust lege.
"Ich weiß, du hasst es gerade hier zu sein. Nur bitte, Tua, bitte fang an, dir Mühe zu geben und versuch das Beste aus der Zeit zu machen. Tu's für mich; tu's für deine Mutter, für deinen Vater und für dich selbst", rede ich auf ihn ein. Er atmet ein, schaut zur Decke, dann küsst er mich und hält mich bei sich. "Ich würde alles tun, damit es dir besser geht", versichere ich ihm, als er sich zurückzieht und einen halben Schritt auf Distanz geht.
"Ich weiß." Seine Kiefermuskulatur spannt sich an, dann sagt er: "Ich bin bei meinem Vater drinnen. Ruft mich einfach, wenn ihr bei irgendwas Hilfe braucht."
Ich umarme ihn fest und er klammert sich wie erwartet haltsuchend an mich. "Ich bin stolz auf dich", flüstere ich und schließe die Augen, als er mich auf den Haaransatz küsst.
Danach trennen sich unsere Wege. Tua betritt das Krankenzimmer, in dem sein Vater liegt und ich geselle mich zu Ivanka an den Herd.
Sie lächelt. "Ist er jetzt wirklich bei Kostja?"
Ich lächle zurück. "Falls er nicht direkt aus dem Fenster gesprungen ist, dürfte er tatsächlich bei ihm sein."
Tuas Mutter berührt mich am Arm. "Du hast eine Gabe mit Menschen, Iara. Das habe ich gleich gespürt." Ich blicke in ihre schönen großen Augen, die Tuas so ähneln und eine wohlige Gänsehaut jagt über meinen gesamten Körper.
"Du hast es wirklich gespürt, oder?", frage ich sie und mein Mund wird trocken, kaum dass die Worte ihn verlassen haben.
"Ja. Du dringst zu ihm durch."
"Und er zu mir", entgegne ich.
"Ihr habt etwas sehr Besonderes", befindet sie schmunzelnd.
Ich lache leise auf. "Ich weiß nicht. Wir nennen es normalerweise einfach Liebe."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt