Und unter dem Meer die Tiefsee

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Nachts am Strand spazieren zu gehen zählt zu den Dingen, die man wenigstens einmal getan haben muss. Bevor du stirbst, mach einen Spaziergang. Nachts. Am Meer.
Nach dem Unwetter ist der Himmel wieder aufgeklart. Die Luft ist noch rau und kühl. Tua hält meine Hand. Der Sand knirscht unter unseren Füßen. Das ist das einzige Geräusch abseits der Wellen, die ans Ufer schlagen. Über uns scheint der Mond silbergrau.
"Ich liebe das Meer", durchbricht Tua die Idylle. "Es verlangt nichts von dir, es ist einfach da und auf eine seltsame Art tröstet es dich dadurch."
"Ich weiß genau, was du meinst", sage ich leise. "Ich liebe es auch. In Bahia ist es das reinste und satteste Türkis. Es ist frisch und salzig, manchmal seicht, manchmal ungehemmt und aufbrausend."
Tua grinst. "Das Meer ist ein bisschen wie du, Iara."
"Mehr wie du", grinse ich zurück. Er stellt sich hinter mich, schlingt beide Arme um meinen Körper und flüstert mir ins Ohr: "Eines Tages ziehen wir ans Meer. Wenn wir alt und grau sind."
"Das ist ein schöner Gedanke", schmunzle ich.
"Vielleicht ist es irgendwann mehr als nur ein Gedanke."
Obwohl die Romantik mich noch immer unerwartet trifft, gebe ich eine Antwort, mit der er offenbar nicht gerechnet hat. "Ja, vielleicht." Ich drehe mich in seinen Armen und küsse ihn.
"Nächster Urlaub in Bahia?", fragt er.
"Du spinnst", lache ich und klopfe auf seine Brust. "Ich mein's Ernst. Ich spare seit einer Ewigkeit auf die Traumreise schlechthin."
"Ich aber nicht", sage ich freiheraus. Ich bin gerade erst aus den Schulden gekrochen. Nicht im Traum würde mir einfallen, die knappen Geldmittel zu verprassen, die mir zur Verfügung stehen; selbst wenn es dabei um eine absolute Traumreise geht.
"Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nah treten." Er will von mir abrücken, doch ich taumle ihm hinterher. "Wir können woanders hin. Nach Ibiza. Ich buche uns eine Finca mit Sonnenterrasse. Bahia geht in nächster Zeit einfach nicht. Und überhaupt: Solltest du mich nach Bahia begleiten, begleite ich dich nach Kiew."
"Sag das nicht so daher", schüttelt er den Kopf.
Ich nehme sein Gesicht in meine Hände. "Das ist mein voller Ernst. Ich lege mir jeden Monat was beiseite für Ibiza und danach was für die größeren Sachen."
"Wovon denn? Von deinem Gehalt bei Universal kannst du gerade mal deine Miete und die Lebensmittel zahlen."
Frustriert presse ich die Zähne aufeinander.
"Tut mir leid", meint er einfühlsamer.
"Schon gut, du hast ja Recht", stopfe ich meinen Ärger zurück in mich hinein, statt ihn auf Tua niederprasseln zu lassen. Er hat das nicht verdient.
"Ich kann nicht loslassen. Die Ausbildung sollte mir einen Traumjob bescheren. Ich wollte mit Bestnote meinen Abschluss machen und Herrn Mattis die Hand schütteln. Auf gute zukünftige Zusammenarbeit. Ich wünschte, dieses Bild, das ich mir in meinem Kinderkopf ausmale, wäre echt. Das ist ... Undankbar!", mache ich meinem Unmut Luft. "Ich stecke meine gesamte Energie in diesen blöden Job und bekomme dafür einen Hungerlohn und keine richtige Anerkennung!"
"Glaubst du, es ist einfach für mich, dich in diesem Zustand zu erleben? Du leidest seit Monaten unter deinem Job, denn er ist nun mal mies. Die Konditionen sind mies, Betty ist mies, Tina ist mies. Das einzige, was du an deinem Job liebst, ist die Arbeit mit Künstlern. Und das könntest du genauso gut woanders machen."
"Wo denn?"
Tua seufzt. "Ich wollte, dass Bastian es dir selbst sagt, wenn alles in trockenen Tüchern ist, aber er hat es mir in einer Sprachnachricht erzählt, weil ich mir zuletzt solche Sorgen um dich gemacht habe. Marcello und Ronni suchen frühzeitig neue Azubis für die Konzertagentur. Sie hatten zwei Leute, aber einen haben sie schon früher rausgeschmissen, weil er einfach einen beschissenen Job gemacht hat und die andere, eine Freundin von Bastian, rückt in einen Studiengang nach, auf den sie sich beworben hatte. Bastian wird dich vorschlagen, aber er sagt, Marcello hat eh schon an dich gedacht. Deine Chancen stehen wirklich gut."
"Warte, das sagst du mir erst jetzt?" Entgeistert starre ich ihn an. "Bist du wahnsinnig? Weißt du, wie schlecht es mir ging in den letzten Monaten? Hast du überhaupt auch nur die geringste Ahnung davon, wie beschissen mein Job ist? Und du verschweigst mir diese Möglichkeit? Ist das dein Ernst?!"
"Bastian hat mich darum gebeten, Stillschweigen vor dir zu bewahren, außerdem habe ich es erst vor zwei, drei Wochen erfahren."
"Vor zwei, drei Wochen?", wiederhole ich hysterisch. "Ich bin deine Freundin! Von sowas musst du mir sofort erzählen!"
"Muss ich nicht."
"Hör auf so ruhig bleiben!"
"Hör auf mich anzuschreien."
"Sonst was?!"
"Sonst brülle ich zurück!" Seine Stimme schallt über das Meer und ist bei der Ruhe sicher noch meilenweit zu hören.
Ich zucke zusammen. "Tut mir leid", entschuldige ich mich kleinlaut. "Mir auch", murmelt er.
In meinem Kopf überschlägt sich alles, wie die Wellen sich rechts von uns überschlagen. Ich habe einen Job in Aussicht. Eine Alternative. Gerade will ich auf der Stelle kündigen, zurück zur Ferienwohnung sprinten, mein Handy aus dem Safe rausholen und eine E-Mail an Tina schicken, in der ich ihr erkläre, dass ich nach Ablauf meiner falschen Krankschreibung für die Woche trotzdem nicht zur Arbeit kommen werde. Mir fällt erst in diesem Moment auf, mit was für einem unglaublichen Gewicht der Stress, den Universal mir eingebracht, wirklich auf mir lastet. Mein Herz sinkt wie ein Stein.
"Ich will da nicht mehr arbeiten", sage ich mit erstickter Stimme.
"Ich weiß." Tua zieht mich zu sich und ich vergrabe mein Gesicht an seiner Halsbeuge. "Es ist ein Scheiß-Job", wimmere ich. Er streichelt beruhigend über meinen Rücken.
"Du wirst von der Idee sicher nicht allzu begeistert sein, weil das Risiko groß ist, aber meiner Meinung nach solltest du kündigen. Jetzt."
Ich blinzle die sich anbahnenden Tränen weg, so gut es geht. "Was meinst du mit jetzt?"
"In ein paar Tagen. Wenn wir wieder in Berlin sind."
"Aber bei solchen Entscheidungen sollte man das Pro-und-Contra abwägen", bringe ich einen lahmen Einwand.
"Wir haben zehntausendmal über Pro-und-Contra gesprochen." Er streicht mir durchs Haar. "Keine Ahnung, wie du das schaffst, aber am Ende unserer Diskussionen darüber findest du immer einen Punkt, der für dich alles Schlechte in den Schatten stellt. Ob es die Tatsache ist, dass du bei Universal deinen Freunden zur Hand gehst oder das Geld, das zwar nur ein Hungerlohn, aber immer noch besser als nichts ist. Ich kann dir das anscheinend so oft sagen, wie ich will, aber deine Gesundheit ist viel wichtiger. Du bist mental am Ende und du hast physisch zwischendurch Phasen, die jeden Arzt beunruhigen würden. Gib dich doch nicht für diesen Job auf. Ich weiß, dass die Stelle bei Universal mehr ist, als du je im Leben hattest und dass es dir schwerfällt, davon Abschied zu nehmen; ich kann das wirklich nachvollziehen. Aber dir muss doch klar sein, dass du dir nur einredest, du wärst zufrieden damit. Wenn du weiter in deiner Traumwelt lebst, verlierst du früher oder später die Realität aus den Augen. Dann geht deine körperliche und seelische Gesundheit vor die Hunde und das ist es nicht wert, glaub mir. Das ist es nicht wert", wiederholt er und hört sich dabei an, als würde er zu sich selbst sprechen. "Du machst dich kaputt und ich gucke nur zu -"
"Wenn du dir jetzt Vorwürfe machst, Tua, dann muss ich dich ohrfeigen."
"Ich hätte dich viel früher da rausholen müssen", sagt er entschieden.
"Tua." Ich nehme sein Gesicht in meine Hände. "Ich mein's ernst, du bist doch bescheuert, wenn du echt glaubst, du hättest mich da rausholen können. Vor zwei Monaten hätte ich dir einen Vogel gezeigt und dir gesagt: Nur über meine Leiche."
"Ich hätte dich davor schützen sollen, Iara."
"Vor mir selbst? Ich wäre dir davongelaufen."
"Es fühlt sich an, als hätte ich versagt."
"Hör auf. Du hast mir auf Mamas Hochzeit die Augen geöffnet, denn du hast Recht. Ich kann mich nicht auf Tausende von Leuten aufteilen und ich möchte das auch gar nicht mehr. Ich will die Beziehungen pflegen, die mir etwas bedeuten; ich möchte mehr Zeit, um sie mit dir zu verbringen. Denn du tust mir gut."
Ich sehe ihm unnachgiebig in die Augen und glaube, ihn auf einmal zu verstehen. Wir sind wirklich wie das Meer

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt