Umzug mit Altlasten

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"Das war der letzte Karton", informiert mich Stean und ich falle völlig erschöpft gegen meinen Kumpel, den ich fest umarme. Er ist verschwitzt, riecht aber angenehm nach Deo.
"Stean, fang!" Pari wirft ihm ein Handtuch zu, er fängt es auf und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
"Ich zieh nie wieder in 'ne Dachgeschosswohnung ohne Fahrstuhl", murmelt Mika und plumpst neben seiner Freundin in den Sitzsack. Er schraubt eine Flasche Wasser auf, legt seinen Arm um Kitty und trinkt den halben Liter in einem Zug aus.
"Das habt ihr gut gemacht", lächelt seine Mutter Sascha. Sie hat in der Küche das Verpflegungskommando übernommen und mein ehemaliger Mitbewohner Bastian steht schon dort bereit, um sich endlich den Bauch vollzuschlagen. Er starrt gierig auf die geschmierten Brötchen und macht solche Stielaugen, dass Mikas Mutter ihn schief anguckt. "Nimm schon", fordert sie ihn auf. Er lässt sich das nicht zweimal sagen und langt zu. "Du machst es richtig, friss, bevor du stirbst, Bastian", ärgere ich ihn.
"Maul halten, Kleine, ich weiß immer noch, wo du wohnst", nuschelt er grantig. Die Krümel fallen ihm links und rechts aus dem Mund. "Selber Maul halten", spotte ich also. "Du verteilst dein halbes Brötchen auf dem Küchenboden."
"Ich bin froh, dass ich dich los bin."
"Hör auf zu lügen, Bastian", schießt meine große Schwester genervt gegen ihn. Die beiden werden sich wohl nie wieder so gut verstehen wie damals, als sie noch unverbindlichen Sex miteinander hatten. Jetzt hält Carries Freund sie im Arm und Bastian steht allein da. Statt weiter auf ihm rumzuhacken, verteidige ich ihn. "Er lügt nicht, der ist wirklich froh, glaub's mir", wende ich mich an meine Schwester. "Bedient euch, ich schaue mal, wo der Rest der Bande abgeblieben ist." Ich verlasse den Flur, der uns in Zukunft als eine Art Gemeinschaftsraum dienen wird und laufe durch mein neues Zimmer zur Balkontür. Weil Tua nun mal Raucher ist, haben Mika, Pari und ich einstimmig beschlossen, dass ich den Zugang zum Balkon hüten darf. Mein Freund steht draußen und hält tatsächlich eine Zigarette in der Hand, genauso wie Tarik und Jenn. Ich geselle mich zu ihnen und wir schauen alle gemeinsam über die Dächer Berlins. Es ist Mittag und ziemlich warm für einen Tag im Dezember, oder vielleicht täuscht das auch und mir ist nur noch immer heiß vom Schleppen.
"Alles klar bei euch?", erkundige ich mich in Richtung Jenn. Sie ist Tua eine so gute Freundin geworden, dass ich inzwischen all meine Zweifel ihr gegenüber abgelegt habe. Ich frage mich, ob er ihr wohl gesagt hat, was er mir jetzt schon seit Tagen verschweigt und was ihn immer mal wieder runterzieht. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn ich sie einfach darauf anspreche. Anstelle von Jenn nickt Tarik und bestätigt: "Uns geht's prima, die Wohnung ist echt schön."
"Finde ich auch. Danke für eure Hilfe, Teddy", nenne ich ihn bei dem Spitznamen, den ich ihm mit fünfzehn verpasst habe. Mit seinem dunklen Teint und den braunen Augen erinnert mich mein bester Freund tatsächlich an ein treues Stofftier. Ich habe ihn wahnsinnig gern. Er ist mir inzwischen genauso wichtig geworden wie mein Seelenverwandter Stean, wenn nicht sogar noch wichtiger. Tarik ist im Gegensatz zu Stean immerhin in meiner Nähe und stets erreichbar. Weil Letzterer sein geliebtes Braunschweig nie verlassen wird, sehen wir uns leider nur selten. Seltener auf jeden Fall, als ich mit Tarik rumhänge.
"Ich bringe euch was zu trinken", sage ich und es ist klar, dass ich keinen Widerspruch dulden werde. "Jenn, würdest du mir kurz helfen?", bitte ich Tariks feste Freundin und sie folgt mir in die Wohnung.
"Okay, ich komme gleich zur Sache", beginne ich.
Abwartend mustert sie mich. Jenn ist nicht der gesprächige Typ, fällt mir einmal mehr auf. Sie legt jedes Wort auf die Goldwaage. Ich könnte mir in dieser Hinsicht mal eine Scheibe von ihr abschneiden. "Tua verhält sich komisch", schildere ich die Situation. "Er ist ab und an down, aber nicht wegen seiner Depressionen, das hat einen anderen Grund, ich weiß nur nicht welchen. Und er will es mir nicht sagen. Hat er vielleicht dir erzählt, was mit ihm los ist?" Nervös fange ich an auf meiner Unterlippe herumzukauen, während ich mir ein paar Gläser schnappe. In jedes der vier schütte ich geistesabwesend Selters, während ich Jenns Antwort abwarte. "Nein", erwidert sie schließlich. "Mit mir hat er nicht darüber geredet. Ich weiß aber, was du meinst. Als wir letztens telefoniert haben, konnte ich es ihm anhören. Etwas scheint ihn zu beschäftigen und es ist etwas, das ihn echt belasten muss."
Wenigstens macht sie sich ähnliche Sorgen. Ich fühle mich sofort ein Stück weniger allein damit. Aber ich bin noch immer überfordert. "Er sagt, er braucht Zeit, um drüber sprechen zu können. Im Urlaub konnten wir normal miteinander reden und jetzt ist unsere Kommunikation wieder so gestört wie zuvor. Innerlich macht mich das rasend."
"Wut hilft dir nicht weiter", kommentiert Jenn trocken.
"Ich weiß", seufze ich.
Sie nimmt zwei der Wassergläser in die Hand. "Tu, was er von dir verlangt hat: Gib ihm Zeit", rät sie mir. "Es muss irgendwas Schwerwiegendes sein", grübelt sie gleich darauf. "Er hat von eurem Urlaub richtig geschwärmt und davon, wie wundervoll und gut du für ihn bist. Daran, dass er dich nicht liebt, kann es also schon mal nicht liegen."
Mein Herz wird weich bei ihren Worten und ich lächle.
"Er wird sich dir öffnen", verspricht Jenn. "Du wirst schon sehen."
Wir treten wieder zu den Jungs auf den Balkon und reichen ihnen die Getränke. Tua leert sein Glas auf Ex und haucht mir einen Kuss auf die Wange. "Ich fahre ins Studio", verabschiedet er sich. Nicht einverstanden damit, verschränke ich meine Finger fest mit seinen. "Albumarbeit", erklärt er. "Ich muss mich ranhalten, morgen komme ich früh her und helfe bei den Vorbereitungen für die Einweihungsparty."
"Ich bringe dich zur Bahn", bestehe ich darauf, ihn wenigstens noch ein paar Meter zu Fuß zu begleiten.
"Dann komm, beeilen wir uns, damit du die Leute hier nicht zu lange warten lässt." Er drückt seine Kippe im Aschenbecher aus und zieht mich mit sich. "Zieh dir eine Jacke an", fordert er mich auf.
"Mir ist warm", trotze ich.
"Du hast vorhin geschwitzt, ich will nicht, dass du dich erkältest, zieh eine Jacke an." Er selbst schließt den Reißverschluss seiner eigenen. Widerwillig ziehe ich einen Parka aus dem Kleiderschrank.
"Ich hau rein", ruft Tua bereits in den Flur. Statt zu allen nochmal extra zu latschen, nimmt er die Tschüss-Rufe bloß grinsend entgegen. "Bin gleich wieder da", sage ich zu Pari, die für mich die Stellung als Gastgeberin halten wird. Sie nickt nur. "Wer möchte Kuchen?", fragt sie und die Aufmerksamkeit schwingt von mir und Tua weg, hin zu dem persischen Möhren-Kokosnusskuchen, den Pari gestern nach dem Packen der letzten Umzugskisten noch in einer Nachtschicht gebacken hat.
Ich ziehe die Tür hinter uns zu und beobachte Tua stumm dabei, wie er vor mir die Treppe runtergeht. "Du hast das klasse geregelt heute", macht er mir ein Kompliment, doch sein Blick ist auf das Display seines Handys gerichtet.
"Danke", murmle ich. Mich bedrückt seine Verschlossenheit so sehr, ich sollte ihm das sagen. "Morgen müssen wir ein paar Möbel in Mikas Zimmer verrücken, damit die Leute tanzen können", gebe ich stattdessen mechanisch von mir.
"Ich bin froh, dass Mika sich dieses einklappbare Schrankbett gebaut hat. War zwar richtig beschissen, das raufzutragen, bedeutet dafür aber morgen weniger Arbeit", spricht er ebenfalls über Belanglosigkeiten. Er sperrt sein Handy und steckt es ein. Wir haben die U-Bahnhaltestelle erreicht und ich stoppe vor dem Eingang. "Mach nicht zu lange im Studio, Großer", bitte ich ihn.
"Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann", erwidert er kryptisch, beugt sich das kleine Stück zu mir runter und küsst mich. "Bis morgen", haucht er gegen meine Lippen und ich realisiere, dass heute der erste Tag seit unserem Urlaub sein wird, an dem ich ohne ihn abends einschlafen muss. Selbst nach der Bunkerparty, die er geskippt hat, ist er nachts bei Bastian und mir aufgetaucht, einfach nur um mit mir im selben Bett zu schlafen. Es schien fast, als hätte er es allein mit seinen inneren Dämonen nicht mehr ausgehalten.
"Können wir morgen oder übermorgen mal reden?", frage ich ihn, als er schon auf halber Strecke nach unten ist. Tua bleibt auf einer der Stufen stehen und schaut alarmiert zu mir hoch. Er erklimmt die Treppe erneut und sieht mich skeptisch an. "Was ist los?", will er wissen.
Ich schlucke. Er braucht Zeit und die werde ich ihm wenigstens bis übermorgen noch geben, ermahne ich mich. "Nichts besonderes", winke ich ab. "Mama hat gefragt, ob wir Glühwein an Weihnachten mitbringen können."
Tua weiß, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Trotzdem hakt er nicht weiter nach. "Okay, wir reden übermorgen." Und dann ist er weg und ich trotte ein wenig niedergeschlagen zurück zu meinem neuen Zuhause.

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt