Zu jung und dumm, traurig und schön

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Nachdem wir verspätet gefrühstückt haben, liegt der Nachmittag vor uns und ich frage mich, was wir mit all der Zeit in unserer Urlaubswoche nun anfangen werden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal aufgewacht bin und festgestellt habe, dass ich heute gar nichts erledigen muss.
"Lass uns den Film zurück zur Videothek bringen", meint Tua und ich nicke.
Es regnet inzwischen wieder leicht. Ich strecke die Zunge raus, wie ich es früher auf Spaziergängen mit Mama, Papai und Carrie im Herbst oft getan habe, und lasse ein paar Tropfen darauf zerplatzen.
"Was machst du da?", fragt Tua belustigt.
"Wonach sieht es denn aus?"
"Nach einer ernsten Behinderung, um ehrlich zu sein."
Ich lache empört auf und haue ihn dabei. Er grinst und duckt sich weg, also lasse ich ihn in Ruhe. Als Tua meine Hand nimmt, blicke ich auf unsere verschränkten Finger. Er weiß jetzt mehr als jeder sonst über mich. Unsere Beziehung fühlt sich anders an als gestern und die Tage zuvor. Ein paar der Tropfen rinnen über unsere Fingerknöchel, dann löse ich meine Augen von diesem seltsam beruhigenden Schaubild und gucke hinab auf meine Schuhe, die vom Regen nass glänzen.
"Darf ich dich was fragen?" Tuas Stimme klingt ruhig.
"M-hm", nicke ich und beobachte, wie seine Lippen sich kräuseln. "Hast du deine Schwester jemals auf den Vorfall mit dem Bullen aus eurem Block angesprochen?"
Langsam schüttle ich den Kopf. "Ich hatte es sogar bis eben selbst noch völlig verdrängt", gestehe ich. "Das Gespräch hat eine Menge Erinnerungen hochgeholt. Gute wie schlechte."
Tua nickt verständnisvoll. "Tut mir leid, wenn dich das runterzieht. Erzähl mir doch mehr von den guten Erinnerungen", bittet er mich. "Die Geschichte von Marten und den Hasch-Brownies war witzig ... Wenn ich mir nicht dein Alter dazudenke; sonst dreht sich mir der Magen um", ergänzt er.
"Ich glaube, mein Alter solltest du dir für viele der witzigen Geschichten aus dieser Zeit wegdenken, sonst sind sie einfach nicht mehr lustig", konstatiere ich nüchtern. "Ben wollte mir mal was aus dem Späti klauen. Ich glaube, es war was total Dämliches, Kaugummis oder sowas. Ja, genau!", hebe ich triumphal die Stimme an. "Juicy Fruit. Darauf bin ich voll abgefahren früher. Jedenfalls hat er sich dermaßen dumm angestellt, dass der Besitzer ihn an der Kasse, als er sein Bier bezahlt hat, einfach eiskalt gebeten hat, das Päckchen zurück ins Regal zu legen. Er wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken; das war niedlich." Ich schmunzle andeutungsweise.
Tua wirft mir einen schiefen Blick zu. "Da wusstest du nicht, dass du dich eines Tages in Sachen Ladendiebstahl mal um Längen besser anstellen würdest als er, oder?"
Natürlich verstehe ich, das mein Freund bei dem Thema Blut geleckt hat, aber muss er jetzt unbedingt nochmal auf meine Vergangenheit in einer kleinkriminellen Diebesbande zurückkommen? Um die Ruhe zu bewahren, atme ich bewusst aus. "Richtig." Am Horizont sehe ich ein Trugbild meiner selbst mit zwölf, wie ich vor Aljoscha stehe und er mir einen Platz bei den Kleptos anbietet; mir im Grunde genommen Freunde in meinem Alter anbietet, die ich sonst nirgendwo habe.
Tua bemerkt, dass ich mich unwohl dabei fühle, über die Zeit in Marzahn zu sprechen. Als er das Gespräch in angenehmere Bahnen lenkt, drücke ich dankbar seine Hand. "Wo habt ihr gewohnt, bevor ihr nach Marzahn gezogen seid?", fragt er.
"Kreuzberg. Mehringdamm." Um die Ecke lag der Viktoria-Park, ein vietnamesisches Restaurant, unzählige Vintageboutiquen ... "Es fühlt sich an, als wäre das nur eine Zwischenstation gewesen. Ich erinnere mich deutlicher an die Vorstadt und das Leben im Block."
"Reutlingen ist genauso Vorstadt wie Marzahn; und da bin ich geboren und aufgewachsen. Wenn man hinzieht und neu dort ist, muss es beschissen sein."
"Wieso?"
Eine Falte schleicht sich zwischen Tuas Augenbrauen und ich überlege, was ich Falsches gesagt haben könnte.
"Iara, glaubst du, deine Kindheit war ... na ja, normal?", fragt er ernst. "Ich weiß, dass sie nicht normal war."
"Aber glaubst du an das, was du weißt? Oder ist das Wissen, dass andere dir im Lauf der Zeit vermittelt haben? Ist das deine Perspektive oder die derer, die von außen raufschauen?"
Mir fällt auf, dass ich das tatsächlich nie hinterfragt habe. "Ich weiß es nicht", antworte ich wahrheitsgetreu. "Es kommt mir normal vor, weil ich das erlebt habe. Das ist meine Erfahrung, meine Realität; meine Normalität."
"Mal ungelogen, ich war ein verdammtes Arschloch als ich noch jünger war. Über zugezogene Leute wie dich und deine Schwester wäre ich täglich hergezogen, weil ich stolz darauf war, wo ich geboren wurde."
"Solche Typen gab's in meinem Block auch", seufze ich. "Im Kollektiv immer scheiße zu dir, aber handzahm, wenn man mit ihnen allein ist."
Tua lacht bestätigend. "Jap."
"Welche, die dann später wieder vor ihren Jungs erzählen, sie hätten dich flachgelegt, obwohl ihr einfach nur auf dem Dach gesessen und die ganze Nacht geredet habt", murmle ich.
Tua presst die Lippen aufeinander. "Hat Aljoscha behauptet, er hätte dich entjungfert?"
Ich nicke und falle im nächsten Augenblick in die Arme meines Freunds. "Harvey war der erste Typ, in den ich mich ernsthaft verliebt habe, aber ich war verknallt in Aljoscha, bis er dieses Gerücht über uns in die Welt gesetzt hat."
"Wie passt dein Ex-Freund eigentlich in dein Beuteschema?", fragt Tua. "Du stehst doch anscheinend auf Badboys."
Ich lache lauter als geplant darüber. "Ja, du bist der Badboy der Orsons, aber guck dir halt mal den Rest der Lappen in deiner Band an."
Tua lacht zum Glück mit mir. "Das hat Jessica auch zu mir gesagt, als ich ihr von den anderen Bekloppten erzählt habe."
"Ihr habt über die Band gesprochen?" Ich löse mich von ihm und nehme wieder seine Hand, während wir weiter Richtung Videothek schlendern.
"Der Freitagabend gehörte 'ne Zeit lang einfach ihr. Sie ist zu mir gekommen, wir hatten Sex und dazwischen haben wir Filme geguckt, was zusammen gegessen oder auf dem Balkon geraucht und geredet."
"Wart ihr auch mal bei ihr?"
Tua schluckt. Er scheint nervös zu sein, aber wieso? "Ja", sagt er gedehnt. "Sie ist eigentlich nicht so offen, was ihre eigenen vier Wände angeht. Aber ich war dort. Ein paar Mal."
"Sie hat dir richtig vertraut, oder?", ziehe ich meine Schlüsse daraus.
"Ja, wir waren eben befreundet. Es hat sich irgendwann ergeben und auch relativ spät erst. Jess ist mir halt auch nur eine gute Freundin, wenn ich mit ihr schlafe, deswegen haben wir jetzt seit Monaten null Kontakt."
"Ist das so ihre Abmachung mit Typen, dass sie auf sie zählen können, wenn sie von ihnen kriegt, was sie will?"
"Soweit ich weiß war das nur ihre Abmachung mit mir, aber ich kann ihr in der Hinsicht sowieso nicht vertrauen. Ich habe zwar das Gefühl, dass sie die Wahrheit sagt und wirklich kein anderer Mann es je in ihre Wohnung geschafft hat und sie sich ansonsten auch nicht weiter um die Probleme ihrer Sexpartner schert, aber es gibt keine Garantien dafür."
"Wie hast du dir denn dann diesen Status als Freund verdient, wenn das so ungewöhnlich für sie ist?", frage ich verwirrt. "Warte, will ich das überhaupt wissen?", unterbreche ich mich. Es könnte ja etwas Peverses sein und darüber will ich ihn gerade wirklich nicht reden hören.
Tua atmet tief durch. "Hannes sitzt im Knast, weil wir Jess' Schwester damals aus der Patsche geholfen haben. Von da an hat sie mir uneingeschränkt vertraut und wir waren freitags auch mal bei ihr."
Ich runzle die Stirn. "Sie hat eine Schwester?"
"Ja, sie heißt Joyce und ist ein Jahr älter. Hannes und ich sind um die Häuser gezogen. Wir liefen an dieser Jazzbar vorbei, wo sie Livemusik gespielt haben. Joyce war die Sängerin der Band und so schön, dass ich dachte, ich müsste sterben, wenn ich's nicht wenigstens bei ihr versuche. Also sind wir rein. Du siehst, ich war anfangs gar nicht auf was mit Jess aus, ich wollte ihre Schwester. Aber die Anziehung zwischen ihr und mir war ziemlich einseitig und im Verlauf des Abends, während wir an der Bar gequatscht haben, meinte Joyce, ich würde vermutlich eh besser zu ihrer kleinen Schwester passen. Mit der hat sie mich noch am selben Abend bekannt gemacht."
"Verstehe", nicke ich. "Aber wieso glaubst du, du könntest Jess nicht vertrauen, wenn sie dir doch vertraut hat?"
Tua wiegt den Kopf hin und her. "Welches Vertrauen kannst du schon in eine Frau setzen, die sich durch die halbe Weltgeschichte schläft?"
"Auf sowas stehst du?", frage ich spöttisch.
"Sie hat einen guten Charakter, aber Beziehungen sind nicht ihr Ding."
"Hast du sie vor Mascha kennengelernt, währenddessen oder danach?", frage ich vorsichtig.
"Ich kannte Mascha schon, als ich mich auf Jess einließ. Wir waren nur befreundet zu der Zeit. Mascha hat mich gleich vor Jess gewarnt, vielleicht aus Eifersucht. Sie meinte, ihre Intuition würde ihr zuflüstern, dass etwas faul wäre. Ich wurde misstrauisch. Vadim hatte mir vorher schon erzählt, er hätte mal was mit ihr gehabt. Momo hat dazu genickt und mir gesteckt, dass Jess regelmäßig in dem Club, in dem er Türsteher ist, jemanden abschleppt. Nachdem die beiden damit rausgerückt waren, hat Hannes schließlich zugegeben, dass sie sogar ihm an dem Abend, an dem wir sie in der Bar über Joyce kennengelernt haben, vage bekannt vorkam."
"Deine Jungs hatten alle mal was mit ihr?", frage ich ungläubig.
"Nicht Momo, der ist verheiratet, vergiss das nicht."
Ich will erst anbringen, dass das per se nichts zu bedeuten hat, weil Menschen durchaus unglücklich verheiratet sein können; doch dann rufe ich mir wieder ins Gedächtnis, das wir hier von Momo sprechen, dem Knuddelbär aus Tuas Freundeskreis mit den zwei Kindern, der total zufrieden damit wäre, stundenlang über nichts weiter als seine Familie zu plaudern.
"Das hat dich nicht gestört?", hake ich trotzdem nach.
"Nein. Ich konnte bei Jess ich selbst sein, und weil sie mir so ähnlich war, war sie die einzige die ich nicht loswerden wollte. Die Geschichte mit ihr entstand aus purem Narzissmus."
"Du hast gesagt, du hattest was mit ihr, kurz bevor du was mit mir hattest. Also ging die Geschichte echt lang, oder? Lief das mit ihr noch, als du schon mit Mascha zusammen warst?", beschleicht mich eine dunkle Vorahnung.
Tua atmet tief durch. "Iara, Jess ist die Frau auf dem Foto, dass du gefunden hast", gesteht er schließlich und sieht mich an. "Wir haben uns getroffen, auch während ich mit Mascha zusammen war."
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
"Frag ruhig", ermutigt Tua mich.
"Habt ihr euch getroffen, während Mascha schwanger war?"
"Nein", erwidert er einsilbig.
"Hat Jess nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmt, als ihr euch danach wieder verabredet habt?"
"Natürlich hat sie was gemerkt, aber ich habe nie mit ihr darüber gesprochen."
Ich weiß keine Antwort darauf, also schweigen wir.
"Ich dachte immer, es wäre besser, wenn du all diese Dinge über mich nicht weißt", bricht Tua letztlich die Stille. "Jetzt denke ich, es ist besser, dass du's weißt."
"Ist es."

MessiasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt